: Die Abkehr artikulieren-betr.: Überstürzte Vereinigungspolitik: katastophal und illusionär
Überstürzte Vereinigungspolitik: katastrophal und illusionär
Alle demokratischen Kräfte in der DDR und in der Bundesrepublik, vor allem aber „unsere“ Sozialdemokraten sollten endlich mit wirklicher Entschiedenheit den wilhelminischen Polit-Träumen Kohls und seines Telschek entgegentreten, als könnte er sich mit Hilfe handstreichartiger Vereinigungsakte im Laufe weniger Monate dem westdeutschen Wahlvolk als Reichs-Kanzler präsentieren. Denn die völlig unnötige, ebenso katastrophale wie illusionäre Übereilung bei den Vereinigungsplänen: schnellstmögliche Vereinnahmung durch Beitritt nach Artikel 23 Grundgesetz, Währungsunion und Nato-Mitgliedschaft von Gesamtdeutschland, liegt ausschließlich im Interesse Kohls (und des großen Kapitals), nicht aber im Interesse der Menschen in der DDR. Kohls böser Geist Telschek und andere haben zwar durch unverantwortliches Zusammenbruchsgerede viele in der DDR mit in ihre zweckvolle Vereinigungspanik hineingeredet; in Wahrheit aber muß allen klar sein, daß in Wahrheit nur eines wirklich eilt: die Leistung ökonomischer Hilfe, Kooperation und Anschubfinanzierung. Zu diesem Zweck aber ist eine übereilt durchgepeitschte (finanz)politische Vereinnahmung der DDR keineswegs erforderlich - notwendig dagegen sind ca. 30 bis 50 Milliarden Mark und freilich klare vertragliche Abmachungen, wie diese - im wesentlichen investiv anzulegen sind.
Kohl und seine Kapitalfreunde aber versuchen es genau umgekehrt: Zurückhaltung der eilbedürftigen Hilfe, um erpresserischen Druck auf die DDR auszuüben, dem überstürzten (finanz)politischen Anschluß unter konservativ -kapitalistischen Bedingungen zuzustimmen. Katastrophal ist dieser Versuch, eine „Sturzgeburt“ der neuen Einheit herbeizuführen erstens, weil er den Menschen in der DDR jedes politische Selbstbewußtsein und Selbstbestimmungsrecht raubt, ihnen nicht die Zeit gibt, Ergebnisse ihrer demokratischen Revolution in eine gesamtdeutsche Verfassung mit einzubringen; auch uns in der BRD würde eine Überarbeitung des Grundgesetzes sehr gut zu Gesicht stehen, zum Beispiel um mehr Direktdemokratie (Plebiszit) einzubauen etc.
Das muß - und kann! - durch eine verfassunggebende Versammlung in aller Ruhe beraten und durch eine Volksabstimmung verabschiedet werden. Die hektische Eile, die von der Rechten dagegen empfohlen wird, durch „Beitritt“ zum Grundgesetz nach Artikel 23 „einfacher“ und schneller die Verfassungsfrage zu lösen, ist durch nichts gerechtfertigt - es ist nur Ausdruck der tiefen Angst der Konservativen, auch eine Mehrheit in der BRD könnte vielleicht etlichen progressiveren Verfassungsnormen zustimmen. Um so dringender sind daher jene in der SPD zu warnen, die ebenfalls mit dem „einfacheren“ Weg über Artikel 23 liebäugeln - wie überhaupt diese Partei ihre Politik der letzten Monate gründlich revidieren sollte, die überstürzten Vereinigungskonzepte von Kohl eher noch überbieten zu wollen (...).
Aber auch die Währungsunion, deren „seriöse Verwirklichung“ nach Auffassung des „Wirtschaftsweisen“ R.Pohl „mindestens zwei Jahre“ erfordert (vergleiche 'FR‘ vom 12.3.90, Seite 10), sollte nicht länger als ruckzuck durchzuziehendes Sanierungs-„Geschenk“ (Haussmann) den DDR-Bürgern vorgespielt werden. Unverantwortlich, zumal wenn man gleichzeitig kurz vor den DDR-Wahlen einen Umtausch der Sparguthaben im Verhältnis 1:1 verspricht. Ohne gleichzeitige beziehungsweise sogar vorangehende Schritte der Produktivitäts- und Einkommenssteigerung in der DDR würde eine Währungsunion katastrophale Folgen haben: Massenarbeitslosigkeit und/oder Inflation der D-Mark sowie Billigverkauf scheiternder DDR-Unternehmen ans westliche Kapital.
Last not least aber haben die überstürzten Vereinigungskonzepte außenpolitisch zu einem katastrophalen Vertrauensverlust geführt. Das gilt nicht nur für Kohls wiederum nur wahltaktisch zu begreifendes - „Geeiere“ in der Grenzfrage. Es gilt auch für undurchdachte und illusionäre Konzepte Genschers, wenigstens den westlichen Teil Deutschlands in der Nato zu belassen. Daß dies mit der Sowjetunion nicht machbar und friedenspolitisch auch überhaupt nicht wünschbar ist, mußte von vorneherein klar sein. Ohne den sehr langwierigen Prozeß einer Ablösung der Paktsysteme durch ein europäisches Sicherheitssystem, in das ein stark abgerüstetes Gesamtdeutschland eingebunden wird, gibt es keine politische Vereinigung.
Die komplizierten Übergangsprobleme verfassungspolitischer, ökonomischer wie sicherheitspolitischer Art machen das Kohlsche Konzept einer Vereinigung im Sinne der Vereinnahmung im Schnellverfahren innen- wie außenpolitisch zur Illusion. Die übereilten Ansätze in dieser Richtung haben beiden Teilen Deutschlands bereits jetzt großen Schaden zugefügt. Die verantwortlichen Politiker sollten daher endlich mit Entschiedenheit die Abkehr von solcher verfehlter Politik artikulieren und jene mutige, heilsame deutschlandpolitische Nüchternheit zu praktizieren beginnen, wie sie als einziger bisher Oskar Lafontaine gezeigt hat. Das betrifft nicht zuletzt unser Verhalten gegenüber den Übersiedlern: Es ist eine weitere Illusion zu glauben, daß man durch überstürzte Vereinigungsverheißungen diesen Strom rascher blockieren kann. Nur durch Abschaffung der finanziellen Vorteile, die man den Übersiedlern bisher gewährt hat, kann dies erreicht werden.
Prof.Dr.Fritz Vilmar, Fachbereich Politikwissenschaft der FU Berlin
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