Wichtigeres als die Einheit-betr.: Deutschland, einig Vaterland

betr.: Deutschland, einig Vaterland

Jetzt soll die Einheit über uns kommen. Wir werden nicht gefragt. Haben wir nichts zu sagen? Sind wir nicht das Volk? (...)

Wir können die Probleme aus 45 Jahren DDR-Geschichte nicht lösen. Das müssen die DDR-BürgerInnen schon selbst machen. Die demokratischen Oppositionsgruppen aus der DDR sind dazu bereit und in der Lage. Man muß allerdings damit aufhören, sie als rotes Pack zu beschimpfen, sie, die doch erst den Befreiungsprozeß in der DDR in Gang gesetzt haben. Sie dürfen nicht von der „Einig-Vaterland„-Walze niedergebügelt werden. (...) Wir haben unsere eigenen Probleme in 45 Jahren nicht gelöst. Und die sollen jetzt nicht zugeschüttet werden durch übernommene DDR-Probleme. (...)

Wir haben an unseren eigenen politischen Skandale zu knacken. Nur zwei Beispiele: Die Affäre Barschel ist moralisch nie von seiner Partei aufgearbeitet worden; schon ist das Dreckschleudern im Wahlkampf wieder im vollen Gange. Die Parteispendenaffäre hat der politischen Kultur moralisch einen Tiefstpunkt beschert; und da darf der Graf Lambsdorff, der in diesem Zusammenhang Steuern hinterzogen hat (Veruntreuung von Volksvermögen heißt das in der DDR), Parteivorsitzender sein. Glaubwürdigkeitsprobleme genug.

(...) Warum soll ich mich mit als Wendehälsen denunzierten DDR-BürgerInnen beschäftigen? Man wird sich schließlich kein neues Volk backen können. Man wird langfristig auf die Bewältigung der Vergangenheit setzen müssen. Aber müssen wir uns nun auch noch mit der nicht bewältigten Vorvergangenheit der DDR-Deutschen aus dem Dritten Reich beschäftigen? Die ÜbersiedlerInnen bringen einen massiven, ganz naiven Rassendünkel mit. (...) Daß alle in einem Staat lebenden Menschen gleichberechtigt an den Menschenrechten teilhaben sollen, ist ihnen fremd. Stolz, ein Deutscher zu sein! Die Benachteiligten unter ihnen - politisch bedauerlich ungebildet, beruflich schwach ausgebildet, in der Heimat traurig gescheitert - bringen nichts mit als diesen Stolz. Zu fragen ist, wer soll stolz sein auf ihr Deutschsein? Wahlvolk für die Reps. Das bedeutet für uns Rückschläge bei der Arbeit an der Überwindung unserer hauseigenen Ausländerfeindlichkeit.

(...) In der DDR ist ein 57jähriges Demokratiedefizit zu beklagen. Das ist bedauerlich, aber nicht unser Problem. Damit müssen die DDR-BürgerInnen fertig werden wie die Völker Polens, Ungarns oder Estlands auch. Wir haben unsere eigenen Demokratieprobleme: Unser parlamentarisches System ist zu einem absolutistischen System verhärtet. Alle vier Jahre dürfen wir unsere Stimme abgeben. Inzwischen fällt die Regierung unter Umgehung des Volkes Entscheidungen für die Ewigkeit, die kaum von einer nachfolgenden Regierung rückgängig gemacht werden können: Wiederbewaffnung, Atomstromnutzung, Pershingstationierung, Rüstungsprojekte wie den Jäger 90 und als neusten Coup: den Anschluß der DDR nach Artikel 23 Grundgesetz.

Das Volk in der Bundesrepublik hat versucht, dieses Demokratiedefizit auszugleichen und sich außerparlamentarisch Gehör zu verschaffen in vielfältigen Bürgerinitiativen der Friedensbewegung, der Bürgerrechtsbewegung, der Frauenbewegung, der Umweltschutzbewegung, organisiert in Gruppen wie Greenpeace bis schließlich hin zu den Autonomen. Aber das Volk wird, solange es geht, von der Regierung überhört nach dem dickfelligen Motto: Laß sie demonstrieren, wir regieren.

Bei Großdemonstrationen, wie sie ähnlich jetzt in der DDR laufen, hat unsere Regierung stets verlauten lassen, sie werde sich dem „Druck der Straße“ nicht beugen. Derartige Bekundungen des Volkswillens werden bei uns mit Wasserwerfern, Hubschraubern und polizeilicher Taktik bekämpft und anschließend in den Medien diffamiert. Oder man erklärt friedfertige Aktionen von Bürgerinitiativen juristisch spitzfindig zu psychischer Gewalt, um sie zu kriminalisieren und politisch ins Abseits zu stellen.

Dabei sind alle wirklich neuen Impulse in der Politik nicht von den Parteien, sondern von den genannten Bürgerbewegungen ausgegangen. Um das auch in unserer verfaßten Demokratie zu manifestieren, gehört das Recht auf Volksentscheid ins Grundgesetz. Hier liegen unsere Demokratiedefizite. Unübersehbar ist auch immer noch der Mangel an DemokratInnen in der von uns nicht selbst erkämpften Demokratie. Zu viele Menschen möchten nichts weiter, als beim Geldverdienen in Ruhe gelassen werden.

Daß manche Gruppen aus der DDR unser Grundgesetz übernehmen wollen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es modernen Herausforderungen nicht genügt: nicht nur in Fragen der Basisdemokratie, sondern auch in Fragen der modernen Medizin der Organverpflanzung, der Gentechnologie mit den Manipulationen am menschlichen Erbgut. Nicht alles, was machbar ist, darf erlaubt sein. Und was sich als Irrweg herausgestellt hat, wie spätestens seit Tschernobyl die Nutzung der Atomkraft, das muß man verbieten. Der Umweltschutz gehört ins Grundgesetz ebenso wie ein Verbot von Waffenexporten. Auch auf drängende soziale Fragen muß das Grundgesetz reagieren: Das Recht auf einen Kindergartenplatz für jedes Kind würde die Gleichberechtigung fördern. Und das Recht auf einen Arbeitsplatz würde den größten Skandal der Bundesrepublik beheben, die Massenarbeitslosigkeit.

Dadurch, daß die DDR jetzt unser Wirtschaftssystem übernehmen will, wird es nicht plötzlich geadelt. Kritik daran muß weiterhin erlaubt sein. Es ist unfaßbar, daß bei einer seit Jahren prosperierenden Wirtschaft zwei Millionen Menschen arbeitslos sind. Wenn Aus- und Weiterbildungsprogramme wirklich ausgeschöpft sind, dann muß man für Leistungsschwache ganz neue Arbeitsplätze erfinden. Man kann sie doch nicht als Menschenabfall der Leistungsgesellschaft links liegenlassen. Auch das ist ein nicht gelöstes Problem der Bundesrepublik.

Der Privatkapitalismus hat genau wie der Staatskapitalismus unsere Meere zu Jauchegruben gemacht, hat um des Profits willen Himmel und Erde verpestet, kennt in Ost und West nur eine Maxime: Bereichert euch um jeden Preis! Wenn Vermehrung des Geldes das höchste Ziel ist, muß man sich nicht wundern, daß in Ost und West so viele Menschen in die Sucht ausweichen und von Rauschmitteln abhängig sind. Der Kapitalismus hat gezeigt, daß er nicht in der Lage ist, diese wie andere drängende Zukunftsfragen zu lösen. (...)

Die DDR ist nicht der Nabel der Welt. Es gibt wichtigeres als die DDR und die Vereinigung mit ihr, als da wären: die globale Entmilitarisierung, weltweite Umweltschutzprobleme, eine neue Friedensordnung, gute Beziehungen zu allen Nachbarstaaten, der Bau des Hauses Europa, die Probleme der Dritten Welt. Vor der Maueröffnung rangierte die DDR auf Platz 7 unter den Industrienationen. Sie ist damit kein Land der Dritten Welt. Man kann erwarten, daß sie an der Lösung von Aufgaben teilnimmt, die über ihren Tellerrand hinausgehen.

Gundel Hesse, Hamburg