Mitbestimmung ohne Wirkung

Intern ist den Gewerkschaften zwar klar, daß die Mitbestimmung in Nicht-Montan-Betrieben eindeutig an Grenzen stößt / Dennoch heißt ihre Devise: Bloß nicht dran rühren  ■  Von Gabriele Sterkel

Mit den Skandalen in den gemeinwirtschaftlichen Unternehmen war in den Gewerkschaften auch die Diskussion über die Grenzen der Mitbestimmung wieder aufgeflammt. Jetzt droht sie erneut im Wir-sind-uns-doch-alle-einig-Sumpf zu versacken. Ob auf dem DGB-Bundeskongreß im Mai eine kontroverse Debatte zu diesem Thema geführt werden wird, ist inzwischen mehr als fraglich. Viele Gewerkschafter halten die deutsch-deutsche Umbruchsituation für denkbar ungeeignet, alte Gewißheiten, und seien sie auch noch so umstritten, in Frage zu stellen: Zusammenhalten und das Bestehende verteidigen, scheint die Devise des Tages.

Ziemlich deutlich wurde diese Tendenz vor kurzem in Saarbrücken. Im trauten Kreis von Arbeitsdirektoren und wichtigen Vorstandsfunktionären der Gewerkschaften diskutierten IG-Metall-Chef Franz Steinkühler und der SPD -Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine auf einer Tagung der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung in neu gewonnener Eintracht über die „Zukunft der Mitbestimmung“. Wer gehofft hatte, gerade jetzt, vor dem Hintergrund des Einigungsprozesses mit der DDR, müßten die Gewerkschaften einem ernstzunehmenden Zukunftskonzept eine kritische Bestandsaufnahme der gegenwärtigen umstrittenen Mitbestimmungspraxis voranstellen, wurde enttäuscht. Vergangenheitsbewältigung war nicht gefragt: die Herren (unter den rund 200 grauen Anzügen höchstens eine Handvoll Frauen) beschränkten sich selbstgefällig aufs Programmatische.

Steinkühler

blieb unverbindlich

„Mitbestimmung ist kein Museumsstück, das an vergangene Zeiten erinnert“, meint denn auch Franz Steinkühler. Und der Kanzlerkandidat bekundet seine Sympathie philosophisch und unverbindlich: „Mitbestimmung ist für mich immer ein Thema der Freiheit gewesen“, denn Freiheit bedeute die weitestgehende mögliche Selbstbestimmung der Menschen.

Steinkühler blieb in seiner Rede ganz unverbindlich zukunftsorientiert: „Mitbestimmung ist Zukunftskonzept, ist Gestaltungsalternative im Strukturwandel, der nach sozialen und ökologischen Kriterien gestaltet werden muß.“ Triebkraft der Mitbestimmung sei das wachsende Interesse der Menschen, beteiligt zu sein. Lafontaine betonte die ökologische Verantwortung, die ArbeitnehmerInnen durch die Mitbestimmung wahrnehmen sollten. Er spricht sich zwar für Produktmitbestimmung und Rüstungskonversion aus, ist aber gegen die Mitbestimmung im gesamtwirtschaftlichen Bereich, also gegen Wirtschafts- und Sozialräte. Es gebe zwar informell im Saarland Arrangements zwischen Regierung, Unternehmern und Gewerkschaften, aber die solle man nicht institutionalisieren. Wirtschaftspolitische Entscheidungen müßten den Politikern vorbehalten bleiben.

Niemand wollte sich ernsthaft damit auseinandersetzen, daß es in jüngster Zeit wieder Stimmen in den Gewerkschaften gibt, die die Mitbestimmung in den Aufsichtsräten (vor allem in denen, die nicht paritätisch besetzt sind) grundsätzlich in Frage stellen. Dabei war da erst Ende letzten Jahres ein in der Öffentlichkeit viel beachteter Vorstoß von HBV-Chef Lorenz Schwegler: Die Erfahrungen mit der Mitbestimmung im Unternehmen müßten endlich systematisch ausgewertet und es müsse gefragt werden, inwieweit denn die bisherigen Ergebnisse überhaupt mit den angestrebten gewerkschaftlichen Zielen übereinstimmen. Es sollte abgewogen werden, welchen Nutzen sie gebracht habe oder ob nicht vielmehr der Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften ein Schaden entstanden sei durch die ideelle und politische Haftbarmachung der ArbeitnehmervertreterInnen in den Aufsichtsräten für Fehler der Unternehmenspolitik. Der Chef der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen hatte vertreten, daß darüber diskutiert werden müsse, wie die Gewerkschaften das wirtschaftliche Geschehen wirksamer und glaubwürdiger beeinflussen könnten.

Gefahr von außen,

Reihen fest geschlossen

Bei der Veranstaltung in Saarbrücken allerdings standen Alternativen nicht zur Debatte. Allemal eignete sich der Verweis auf die Gefahr von außen, um die eigenen Reihen dichter zu schließen und von inneren Problemen abzulenken. Als Gefahr für die Mitbestimmung identifizierten Franz Steinkühler und Oskar Lafontaine den EG-Binnenmarkt und die Entwicklung in der DDR: „Unsere Mitbestimmung droht von der DDR her aufgerollt zu werden“, warnte Steinkühler. Und deshalb, sekundierte Lafontaine, sei „die Sicherung der Mitbestimmung“ jetzt das erste Gebot.

Ein selbstgefälliges „Weiter so!“, kombiniert mit den seit Jahren aufgewärmten wohlklingenden, unverbindlichen Programmphrasen beherrschten in Saarbrücken die wenig diskursfreudige Stimmung. War es da ein Zufall, daß auf dieser Tagung das HBV-Vorstandsmitglied Christian Götz nicht zu Wort kam? „Der hatte sich gemeldet und war ganz unglücklich, daß er nicht aufgerufen wurde - wahrscheinlich hat ihn die Moderatorin übersehen“, beklagte sich der HBV -Mitbestimmungsexperte Norbert Trautwein. Die HBV hält es nämlich für notwendig, so ist einem Positionspapier zu entnehmen, sowohl „die Praxis der Mandatswahrnehmung in Aufsichtsräten“, als auch „die Gesamtkonzeption der Mitbestimmung“ einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Es bestehe nämlich eine deutliche Diskrepanz zwischen gewerkschaftlichem Anspruch und der Wirklichkeit.

Das Versagen der Mitbestimmung habe vor allem strukturelle Ursachen: Dem Gesetz zufolge ist der Aufsichtsrat gegenüber dem Vorstand zwar mit weitreichenden Kontrollbefugnissen ausgestattet. Tatsächlich aber verlieren die Aufsichtsräte gegenüber den Vorständen immer mehr an Bedeutung und Macht ein Ergebnis zunehmender Konzentrationsprozesse und komplexer Unternehmensverflechtungen. „Ein Unternehmen, das weltweit agiert“, so Lorenz Schwegler in einem 'Spiegel' -Interview, „beschäftigt in seinen Konzernstäben 1.000 und mehr Leute, die dem Vorstand zuarbeiten, die ihn für weitreichende Entscheidungen mit minuziösen Informationen munitionieren. Daneben versammelt sich dann der Aufsichtsrat, zwei-, drei-, viermal im Jahr für drei, vier, fünf Stunden.“

Es fehlen

die positiven Erfahrungen

Die Fülle an Informationen, die der Aufsichtsrat zu verarbeiten habe, überschreite bei weitem die Kapazitäten der nebenberuflichen Aufsichtsratsmitglieder, die bestenfalls gelegentlich einen Sachverständigen zu Hilfe nehmen können. Die Ignoranz der tatsächlichen Schwäche von Aufsichtsräten habe bei den ArbeitnehmerInnen zu falschen Erwartungen geführt. Das könne den Gewerkschaften nicht gleichgültig sein, denn ihr Erfolg werde in der Öffentlichkeit auch an den Ergebnissen ihrer Aufsichtsratspolitik gemessen.

Was also tun? Für eine Verbesserung der Unternehmensmitbestimmung seien, so Trautwein, die HBV -Mitglieder kaum zu mobilisieren, da fehlten die positiven Erfahrungen. Mobilisierungsfähig seien die KollegInnen dort, wo sie die Früchte der Mitbestimmung unmittelbar wahrnehmen könnten: im Betrieb und am Arbeitsplatz. Für Trautwein ist deshalb die entscheidende Frage, wie die Kompetenzen aus der Unternehmensmitbestimmung auf die betriebliche Ebene verlagert werden kann. Lorenz Schweglers Rezept: Die Betriebsverfassung erweitern. „Denn die Betriebsverfassung lebt nicht nur auf dem Papier und in den Köpfen einiger weniger, sondern hat eine breite Verankerung im Bewußtsein, im Wollen und Handeln der Belegschaften.“

Was will nun die IG Metall dem entgegensetzen? „Klar ist, daß wir mit der Mitbestimmung an eindeutige Grenzen stoßen, wenn's hart wird“, räumt Steinkühler-Berater Karlheinz Blessing ein, „bei Personalfragen oder beispielsweise beim Daimler-Benz-Engagement in Südafrika.“ Nur: die IG Metall habe immer vor Illusionen gewarnt und sich nicht einbinden lassen in Vorstandsentscheidungen. Zum Beispiel bei der Daimler/MBB-Fusion, „da haben wir unsere abweichende Position deutlich gemacht“.

Die IG Metall will aber trotzdem nicht die Unternehmensmitbestimmung grundsätzlich in Frage stellen. Im Grunde sei das ein HBV-spezifisches Problem. Die Gewerkschaften seien, so Blessing, im Aufsichtsrat immer so stark, wie sie im Betrieb sind. Ein IG-Metall -Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat habe in einem Unternehmen mit einem gewerkschaftlichen Organisationsgrad von 90 Prozent und mit funktionsfähigen Basis-Strukturen im Betrieb, also mit einem tatkräftigen Betriebsrat und Vertrauenskörper, bedeutend mehr Gewicht, als ein HBV -Vertreter mit einem Organisationsgrad von zehn Prozent und verschiedenen Konkurrenzgruppen - wie die DAG - auf der „Arbeitnehmer-Bank“.

Geheimhaltungspflicht

schüchtert ein

Auch die Mitbestimmungsexpertin der IG Metall, Gerlinde Strauss-Wieczorek, ist mit der HBV-These, daß die Aufsichtsräte gegenüber den Vorständen an Bedeutung verlieren, nicht einverstanden: Denn durch die zunehmenden Unternehmenszusammenschlüsse werde das Entscheidungsrisiko für die Vorstände größer. „Die lassen sich immer mehr Entscheidungen vom Aufsichtsrat absichern“. Die umfassende Information sei das A und O der Arbeitnehmerpolitik in den Aufsichtsräten, denn es gebe faktisch keine Möglichkeit, Abstimmungen gegen die Anteilseigner zu gewinnen. Um mit diesen Informationen allerdings eine wirksame Gegenstrategie entwickeln zu können, sei ein hoher Grad an Verzahnung der unterschiedlichen Ebenen des Mitbestimmungssystems nötig.

In Betriebsräten, Wirtschaftsausschüssen, Betriebsversammlungen etc. müßten die Informationen ausgetauscht und diskutiert und Gegenstrategien entwickelt werden. In diesem Punkt habe auch die IG Metall ein Defizit. Mancher Arbeitnehmervertreter lasse sich von der Geheimhaltungspflicht einschüchtern. Tatsächlich sei aber noch niemand wegen der Weitergabe von Informationen verknackt worden, regt Strauss-Wieczorek an.

Im Prinzip werde auch bei der IG Metall überlegt, ob dem Aufsichtsrat auch in Zukunft noch der entscheidende Stellenwert zukomme. In Zukunft müsse man sich bei dem zunehmenden Konzentrations- und Internationalisierungsprozeß der Unternehmen fragen, ob Arbeitnehmerinteressen nicht wirksamer auf der überbetrieblichen Ebene vertreten werden könnten, zum Beispiel in Wirtschafts- und Sozialräten, weil die Unternehmensmitbestimmung zu kurz greife. Andererseits bewirke die Konzentration und die technologische Entwicklung einen Dezentralisierungsprozeß der Entscheidungen. Auch deshalb gelte es, die betriebliche Ebene zu stärken. „In der kritischen Analyse“, so die IG-Metall-Funktionärin, bestehe im Prinzip Übereinstimmung mit der HBV.

Und was für praktische Konsequenzen könnte das haben? Gerlinde Strauss-Wieczorek bezweifelt, daß die Einzelgewerkschaften auf dem DGB-Bundeskongreß im Mai die Auseinandersetzung um die Mitbestimmung wirklich offen führen wollen. Auch Norbert Trautwein läßt durchblicken, daß der Konflikt zwischen HBV und IG Metall gewiß im Vorfeld beigelegt werde. Man sei sich doch im Prinzip einig - auch die IG Metall wolle ja die Überprüfung der Mitbestimmungspraxis. Was die HBV inzwischen vergessen zu haben scheint: Noch vor wenigen Monaten hatte sie „die kritische überprüfung der Gesamtkonzeption der Mitbestimmung“ gefordert.

Perspektive für die 90er Jahre also: Mitbestimmung wie gehabt? Die Chance der Erneuerung mal wieder verpennt?