Chinas Wirtschaft in den 90ern: Wende in die Stagflation

■ Konferenz deutscher China-Experten auf der 5. Iserlohn-Tagung / Rückzug westlicher Wirtschaft / Umweltprobleme: Vom Aufforstungs- zum Abholzungsparadies

Iserlohn (taz) - Ist der Reformprozeß Chinas gescheitert, und kehrt die chinesische Führung zum zentralistischen Lenkungsinstrumentarium der sechziger Jahre zurück? Wendet sich die deutsche Industrie von China ab und den nahegelegenen „leichteren“ Märkten Osteuropas zu? Führt der Industrialisierungsprozeß das Land der Mitte mitten in die ökologische Katastrophe? Darüber debattierten kürzlich zwei Dutzend deutsche China-Experten aus Wirtschaft und Wissenschaft im Rahmen der jährlich stattfindenden „Iserlohn -Tagung“.

Weitgehend einig war man sich in einem: Es gibt derzeit kein Anzeichen einer bevorstehenden Erholung. Die noch bis 1988 gegebenen hohen Wachstumsraten der chinesischen Wirtschaft waren nach der Niederschlagung der Demonstrationen im Juni drastisch zurückgegangen. Die gleichermaßen rückläufige ausländische Geschäfts- und Reisetätigkeit hat inzwischen deutlich spürbar den bis dahin üppigen Devisenzufluß gebremst.

Die seit Mitte der achtziger Jahre steigenden Inflationsraten (offiziellen Angaben zufolge betrugen sie im Jahr 1989 18 Prozent) werden mit der zu erwartenden anhaltenden Rezession zu einer möglicherweise längeren Stagflationsperiode führen. Die einst für das Jahr 2000 gesetzten wirtschaftlichen Ziele werden immer unrealistischer. Anfang der neunziger Jahre zeichnet sich zudem eine Verschärfung ab, auch weil größere Kreditrückzahlungen fällig werden. Die erwartete andauernde stagnative Wirtschaft drückt darüber hinaus die Kreditwürdigkeit Chinas bei westlichen Geschäftsbanken. Bislang allerdings, so die Ansicht von Claudia Anderer von der Norddeutschen Landesbank, bestehe noch kein Grund, die Auslandsverschuldung Chinas skeptisch zu beurteilen. Die Schuldendienstrate liege mit gegenwärtig ungefähr zehn Prozent der Exporterlöse noch weit unterhalb kritischer Grenzen.

Seit dem brutalen Vorgehen der Armee am Platz des Himmlischen Friedens schmollt die Weltöffentlichkeit: Weltbank oder Asiatische Entwicklungsbank, nationale westliche Finanzierungsinstitutionen sowie kommerzielle Bankinstitute hatten zunächst erschreckt Finanzierungen für China gestoppt. Zu groß war die Enttäuschung über das Jahre hinweg als Musterschüler der Marktwirtschaft gelobte China. Zwar zeichnet sich inzwischen wieder eine Zuwendung dieser Institutionen ab. Aber die hinterlassene Kerbe ist tief: Viele deutsche Mittelständler haben ihre Aktivitäten in Richtung China eingestellt und wenden sich neuen hoffnungsträchtigen Märkten in Osteuropa zu - womöglich dankbar ob der ohnehin im Chinageschäft ausbleibenden kurzfristigen Erfolge.

Schon allein um das Desaster der kommunistischen Parteien Osteuropas zu vermeiden, so die Meinung einiger Diskussionsteilnehmer, werde die chinesische Führung den Reformprozeß wiederaufnehmen müssen. Unter diesem Aspekt wurden die sich augenblicklich abzeichnenden Rezentralisierungsmaßnahmen nur als vorübergehende Erscheinung bewertet. Hilflosigkeit der chinesischen Führung gegenüber den drängenden wirtschaftlichen Problemen Inflation, Korruption, wachsende Engpässe bei der Versorgung mit Energie und Rohstoffen - sowie interne Machtkämpfe zwischen den Fraktionen wurden ebenfalls als Gründe für die fehlende Klarheit der aktuellen Wirtschaftspolitik genannt.

Hilflosigkeit der Führung ist auch gegenüber Umweltproblemen gegeben. Während China noch in den 60er Jahren als „Aufforstungsparadies“ galt, ist heute die Bilanz negativ: Der jährlich aufgeforsteten Fläche von einer Million Hektar stehen 2,5 Millionen Hektar Waldzerstörung unter anderem durch Einschlag und Verbrennung gegenüber. Etwa ein Sechstel der Gesamtfläche Chinas ist von schwerer Erosion betroffen. Umweltexperte D.Betke von der TU Berlin: In zunehmendem Umfang gehe die in China ohnehin knappe agrarwirtschaftlich nutzbare Fläche durch Bodenabtrag verloren. Trotz Umweltschutzgesetzen werden in China erhebliche Mengen an Kohlendioxid und Stickoxid ausgestoßen. 1985 emittierte die chinesische Industrie nach westlichen Berechnungen mit 508 Mio. Tonnen CO2 etwa das Zweieinhalbfache der westdeutschen Industrie und zehn Prozent des weltweit von der Industrie emittierten Kohlendioxids. Dies schlägt sich bereits jetzt in den Lungenkrebs- und Mortalitätsraten in einigen Industriestädten nieder.