: Die kurdische Intifada beginnt sich zu formieren
Nachdem türkisches Militär vier Demonstranten in Cizre erschossen hat, weiten sich die Unruhen auch auf andere Kurden-Dörfer aus / Cizre, wo Ausgangssperre herrscht, ist von Soldaten hermetisch abgeriegelt / Widerstandsbewegung PKK spricht von Doppelherrschaft ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren
„Die Generalprobe der Intifada“, titelt die liberale Tageszeitung 'Günes‘. Großformatig zeigt das Foto eine Stadt, die von Flammen und Rauchschwaden bedeckt ist. Menschen flüchten vor Panzern und schießenden Soldaten. „Cizre erinnert an Beirut“ ist die Unterzeile des Fotos. „Gefechte zwischen dem Volk und den Soldaten“, meldet Sabah, eine der auflagenstärksten Zeitungen des Landes.
Der Staatsterror in den kurdischen Provinzen der Türkei hat mit den Zwischenfällen in Cizre einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Im Zuge einer Demonstration von mehreren tausend Menschen aus Protest gegen die Ermordung eines Kurden durch Militär im benachbarten Nusaybin eröffnete die türkische Armee Feuer auf die Menschenmenge, vier Personen wurden mitten im Stadtzentrum erschossen. Nachdem die Todesschüsse der türkischen Armee bekannt wurden, eskalierte der Konflikt. Menschengruppen zogen durch die Straßen und steckten Behörden in Brand, überall in der Stadt wurden Reifen angezündet und Barrikaden errichtet. Cizre ist zum Kriegsschauplatz geworden. Mit Steinen und Stöcken führten Einwohner Krieg gegen schwerbewaffnete „Anti-Guerilla„ -Sondereinheiten der türkischen Armee. „Es lebe Kurdistan“, „Militär raus aus Cizre“ waren die Parolen, die gerufen wurden. „Frauen, Kinder und Jugendliche warfen mit Steinen auf das Militär“, berichtet der LKW-Fahrer Hüseyin Takinoi, der Augenzeuge der Ereignisse wurde. „Überall in unserem Wohnviertel standen Barrikaden. Als die Armee kam, begannen die Gefechte, überall hagelte es Kugelgeschosse“, sagt Emine Yildizgüler, die mit einer Bauchverletzung davonkam. Das Militär, das durch Sondereinheiten verstärkt wurde, schießt ohne Vorwarnung auf Zivilisten in den Straßen. Die beiden Pressefotografen Ali Öz und Kurtulus Gölpinar wurden auf der Terrasse ihres Hotels von Militär beschossen.
In Cizre, wo die Ausgangssperre verordnet ist, droht die Armee ununterbrochen per Megaphon mit dem Schußwaffeneinsatz. „Laßt euch nicht von den Provokateuren vereinnahmen. Wir sind Brüder. Die Sicherheitskräfte sind Herr der Lage. Wir wollen Gutes für euch. Falls Widerstand gegen die Sicherheitskräfte erfolgt, wird den Gesetzen Geltung verschafft und von der Schußwaffe Gebrauch gemacht werden.“ Die Stadt ist hermetisch von Militär abgeriegelt. Auch Abgeordneten des türkischen Parlaments und Journalisten verweigert das Militär die Einreise in die Stadt.
Der türkische Innenminister Abdülkadir Aksu, der mit einer Militärmaschine in die Region flog, machte „Provokateure“ für die Ereignisse verantwortlich. Der Beschwichtigungsversuch des Innenministers auf einer Pressekonferenz in Diyarbakir entbehrte nicht zynischer Züge: „Eine große Gruppe wollte eine illegale Demonstration durchführen. Während der Zwischenfälle wurde das Feuer eröffnet. Leider sind vier Bürger gestorben und neun verletzt worden.“ Der Innenminister sprach von 68 Festnahmen. Die Zahlen türkischer Zeitungen, die Hunderte Festnahmen melden, dürften realistischer sein. „Jetzt geht die Menschenjagd los. Jeden Augenblick können sie hier sein. Die Soldaten verschleppen alle Verdächtigen aus ihren Häusern“, berichtet ein Einwohner am Telefon gegenüber der taz.
Die kurdische Guerillabewegung PKK (Arbeiterpartei Kurdistans), die seit Jahren auf dem Land mit bewaffneten Aktionen gegen die türkische Armee kämpft, sprach in einem in Europa verteilten Flugblatt von einer „Volks-Intifada“: „In Kurdistan gibt es eine Doppelherrschaft. Das kurdische Volk, das sich in Volkskomitees organisiert, hat seinen Platz im nationalen Befreiungskampf eingenommen und beteiligt sich an der Intifada.“
In der Tat haben sich die bürgerkriegsähnlichen Zustände in den kurdischen Provinzen der Türkei auf die Städte ausgeweitet. Während früher in den Bergen die Guerilla der PKK sich Gefechte mit der türkischen Armee lieferte, sicherte die Repressionspolitik des Militärs in den größeren Städten „Ruhe und Ordnung“. Seit kurzem leisten immer mehr Zivilisten in den Städten Widerstand gegen die türkische Armee. Frauen und Schulkinder werfen mit Steinen auf Soldaten, und Geschäftsleute schließen aus Protest gegen das Militär die Läden. Seit Tagen hatten alle Geschäfte nicht nur Cizre, sondern in der ganzen Region die Rolläden heruntergelassen. Grund: Im benachbarten Nusaybin war während einer Beerdigung von PKK-Militanten der Jugendliche Semsettin Ciftci erschossen worden. Die Schwester des Getöteten war Augenzeuge des Vorfalls: Ein Soldat der Sondereinsatztruppen, der den Jugendlichen zuerst mit einem Knüppel zu Boden streckte, erschoß ihn anschließend mit einer Kugel in den Kopf.
Die Schärfe der Auseinandersetzungen in den kurdischen Städten ist Resultat der Entvölkerung der kurdischen Dörfer durch das Militär. Um die Unterstützung der PKK durch die Landbevölkerung abzuschneiden, wurden Hunderte Dörfer zwangsevakuiert. Zehntausende Bauern mußten sich, ihrer Existenzgrundlage beraubt, in Städten niederlassen Widerstandspotential.
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