Ein stinknormaler Stadtbezirk

■ Ein Streifzug durch Lichtenberg, wo sich Skins und Stasis tummeln / Von der „Blutmauer“ zu den ersten Betonwohnhäusern der Welt / Die Viktoriastadt: Ehemalige Sinti-Siedlung, heute beliebte Kulisse für die DEFA

Wer in Lichtenberg, Bezirk des Berliner Ostens, nach Sehenswürdigkeiten sucht, begibt sich ins Abseits der üblichen Touristenstrecken. Bekannt ist in der Regel nur der Tierpark. In einschlägiger Literatur findet man außerdem Hinweise auf die Trabrennbahn und das „Kapitulationsmuseum“ in Karlshorst, wo 1945 die deutsche Kapitulationsurkunde unterschrieben wurde, sowie die 1924 angelegte Gedenkstätte der Sozialisten auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde. Hierher pilgerte seit 1951 die Partei- und Staatsführung und heuchelte einmal im Jahr revolutionäres Gedenken. Sonst fällt einem zu Lichtenberg eher negatives ein, wie zum Beispiel das Hauptquartier der Staatssicherheit an der Normannenstraße, die Strafvollzugsanstalt Rummelsburg oder Industriedreckschleudern wie Elektrokohle und das Kraftwerk Klingenberg. Keinerlei Hohenzollernprunk wie in Berlin Mitte oder Szenemystizismus a la Prenzlauer Berg.

Lichtenberg ist ein stinknormaler Stadtbezirk, 26,2 Quadratkilometer groß, mit rund 190.000 EinwohnerInnen, Industrie, Mietskasernen der Jahrhunderwende und Plattenbetonwüsten der Neuzeit - alles in trauter Gegensätzlichkeit und ganz gewöhnlich. Doch auch hier finden sich die Details, die man nur auf individuellen Spaziergängen entdecken kann. Wer also den sehr zu empfehlenden Tierpark schon gesehen hat, setzt sich in die U -Bahn Richtung Hönow und fährt bis zur Station Frankfurter Allee. Hier beginnt der Bezirk Lichtenberg und als erstes kann man hinter einem Hochhausklotz Ecke Frankfurter Allee/Jaques-Duclos-Straße am Rande eines kleinen Parks die Blutmauer sehen. Zum Ende der Novemberrevolution 1918 wurden an dieser Stelle die letzten Kämpfer erschossen. Die Namen der Gefallenen stehen auf der Mauer, die sich unscheinbar in den Schatten des Hochhauses duckt.

Wer Lust hat, geht durch den Park und kann an dessen Ende einen schön verzierten Backsteinbau bewundern, das Lichtenberger Rathaus. Danach geht es zurück zur Kreuzung und ohne Zögern direkt in das Neubaugebiet Frankfurter Allee -Süd hinein. Die Jugendlichen nennen das Gebiet „Vollkontaktgegend“. Ein Ergebnis der vielen Schlägereien, die hier zwischen Skins und anderen Jugendlichen stattfinden. Skins gibt es in diesem Wohngebiet besonders viele und sie kommen zu einem erheblichen Anteil aus Familien ehemaliger Staasicherheitsbeamter - die Normannenstraße liegt gleich gegenüber dem Wohngebiet. Mittendrin, von weiß gekachelten Hochhäusern umzingelt, behauptet sich eines der wenigen katholischen Gotteshäuser in Berlin - die Mauritiuskirche. Links daneben, in der John -Sieg-Straße, ist das „Studio bildende Kunst“ zu finden. Ein kleiner Jugendstilbau der Ausstellungen, Zeichen- und einen Keramikzirkel beherbergt. Die Straße runter steht eine alte ehrwürdige Schule. Trotzig macht sie sich zwischen all den Eiheitsbauten breit und dokumentiert den besseren Geschmack früherer Architekten.

Wenn man jetzt rechts in die Schulze-Boysen-Straße abbiegt, sieht man im Hintergrund eine Eisenbahnbrücke. Dahinter liegt der Rest der ehemaligen Victoria-Stadt und noch heute dreht die DEFA hier ab und zu Filme, die um die Jahrhundertwende und in den zwanziger, dreißiger Jahre spielen.Die Leute aus dem Neubaugebiet sagen „das Ghetto“ und das man sich dort nur mit einem Messer in der Tasche hintrauen dürfe. Fakt ist, daß in diesem Gebiet verstärkt sozial schlechter gestellte Familien wohnten und als man zudem versuchte, hier „Zigeuner“ seßhaft zu machen, führte das zu Spannungen. Außerdem wurde das Gebiet in seiner Infrastruktur Jahrzehntelang vernachlässigt. Die Häuser sind mehr als heruntergewohnt und die begonnene und sich zur Zeit hinschleppende Rekonstruktion kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß das ganze Gebiet in einem katastrophalen Zustand ist. Trotzdem lohnt es sich, eine Weile in dem Areal Tuchollaplatz, Pfarr-, kaskel-, Spitta- und Türrschmidstraße herumzulaufen. Denn dort kann man die ersten, leider ziemlich unscheinbaren, Betonwohnhäuser der Welt bestaunen. Von den um 1873-75 gebauten 60 Blöcken sind lediglich 16 übrig. So in der Spittastraße 40 und in der Türrschmidstraße 17. Ein Hinweis auf die Bedeutung dieser Häuser fehlt überall.

Am Ende der Pfarrstraße sieht man dann eine S-Bahnbrücke, die zum Bahnhof Rummelsburg führt. Von dort fahren Züge direkt bis Friedrichstraße.

Ein guter Rat für jene zum Schluß, die diesen Weg am Wochenende zurücklegen wollen: Es empfielt sich, den Imbiß selbst mitzubringen. Kneipen gibt es zwar am Tuchollaplatz, doch die sind am Wochenende geschlossen.

Markstein