Die taz-tägliche B Beinahe-Havarie

■ Das modernste Redaktionssystem, ausgefeilte High-Tech, nervenstarke und erfahrene Product-Controler - es nützt nichts. In der taz wird nahezu täglich am Absturz vorbeigeschrammt. Natürliche und künstliche Intelligenz sind bei uns im Blättchen offenbar nur ausnahmsweise kompatibel.

Chef-Controler

PHILIPPE ANDRE plaudert taz-intern aus seinem von Katastrophen geprägten Erfahrungsschatz.

in Redakteur aus unserem Osteuropa-Pool kommt in die Technik gestolpert. Er ist völlig außer Atem. Seine Brillengläser sind beschlagen. Man sieht die erschreckend weit aufgerissenen Augen dahinter wie durch einen Weichzeichner. Gottseidank! Die Schweißstellen auf seinem zerknitterten Hemd sind zu den üppigen Hüften hinuntergewachsen und verbreiten nun den strengen Geruch von Panik. Seine Mundwinkel zucken unkontrolliert, als er schluchzend hervorstößt: „Ich hab‘ grad einen Text verschickt!“

„Sehr schön“, antworte ich mit meiner wärmsten Operatorstimme, „wohin denn?“ „Das ist es ja“, er ringt die Hände und sieht sich in Sekundenintervallen gehetzt um. Dann senkt er abrupt die Stimme und tritt nah an mich heran. Aus dem rechten Mundwinkel zischt er: „Ich hab keine Ahnung!“ Willenlos läßt er sich daraufhin in einen bereitstehenden Sessel fallen und verharrt dort in katatoner Versteifung. „Na komm, den werden wir schon finden“, sage ich aufmunternd, „wie heißt er denn, der Kleine?“ „Aufmacher!“ „Und für welche Seite war das Teil?“ „Für die Sechs!“ „Gut;

-Moment mal, die Sechs hat doch bereits seit zwanzig Minuten Sazzschluß!“ „Ja eben!“ „Wie ja eben?“ „Na ja, weil's doch schon so spät ist.“ Er lächelt plötzlich ganz lieb. Eine Wandlung scheint in ihm vorzugehen. Während ich die Dateien elektronisch absuche, gerate ich unversehens in ein erbarmungsloses Sperrfeuer lächerlicher Schutzbehauptungen und Ausflüchte. Er habe sich strikt an die technischen Anweisungen gehalten und das dumme kleine Ding mit dem Notwendigen gefüttert. Nun aber lüge es wie die fiese Ziege aus „Tischlein deck dich...“

Doch ich muß nicht lange suchen. Der Text ist insgesamt drei mal an unterschiedliche Adressen „verschickt“ und abgespeichert worden, davon einmal fast richtig. „So, das hätten wir“, sage ich. „Und? Nehmt ihr's noch?“ lispelt er in geheuchelter Demut. „Na ja, ausnahmsweise“, höre ich mich sagen. „Danke“, flötet der junge Mann und ist umgehend verschwunden wie ein in stundenlanger Fleißarbeit zusammengestoppelter Sechzigzeiler, dessenthalben nun die Asienredakteurin vorstellig wird...

wei von täglich zahllosen Unregelmäßigkeiten im Produktionsprozeß der modernen taz. Doch halt! An dieser Stelle müssen wir einem möglicherweise aufkommendem Mißverständnis vorbeugen. Es waren Redakteure, die weiland darauf drängten, das rechnergesteuerte Redaktionssystem einzuführen, nicht etwa beinharte „Manager“ oder eine auf pure Profitmaximierung bedachte Geschäftsführung. Denn die taz ist anders! Die Belegschaft entscheidet basisdemokratisch! Als es dann installiert war, mochte sich jedoch kaum mehr einer an jene unternehmerisch kühne Initiative erinnern. Im Gegenteil. Flugs bildeten sich Widerstandsgruppen, die unter dem Motto „Wir sind doch keine Informatiker“ zu einem bis heute andauernden Bummelstreik und passivem Ungehorsam auf allen Ebenen der Produktion übergingen.

Dabei war von seiten der Technik und der Geschäftsführung wirklich an alles gedacht worden, was die Redaktion einer ultraprogressiven Zeitung so braucht. Das neueste und beste Textverarbeitungssystem, hochleistungsfähige Personal -Computer (PC) in Form autonomer redaktioneller Subsysteme, Portables und Schleppables (gerade noch tragbare Reise-PCs für den rasenden Korrespondenten), gigantische Rechnerkapazitäten, ausgefeilte Laserdruck-Technologie und vieles mehr. Anlaß zur Hoffnung? Natürlich kam alles anders.

Zunächst geschah etwas, das niemand erwartet hatte. Die Fusion hoher künstlicher mit natürlicher Intelligenz, vollzogen im „kommunikativen Akt“ zwischen denkendem taz -Mensch und programmierter Maschine, ließ uns Zeuge einer einmaligen Erscheinung werden. Der Vorgang des Denkens an sich wurde sichtbar. Und siehe, er war häßlich und verschwitzt, aschfahl und verzweifelt. Sodann war eine klare Dominanz der Frauen bei der Aneignung der notwendigen Fähigkeiten am Computer festzustellen. Überrascht? Nur keine Bange. Dies soll keineswegs heißen, alle taz-Redakteurinnen seien am PC topfit. Doch ergibt der direkte empirische Vergleich der beiden Gattungsgruppen, angestellt über einen Beobachtungszeitraum von knapp drei Jahren und bei einer gleichbleibenden Fluktuationsquote von 30 Prozent, eine Auffassungs- und Anwendungsüberlegenheit von 60 zu 40 Prozent für das wache Geschlecht.

as aber bedeutet dies für die stets devote taz-Technik? Ganz einfach: 40% der Frauen und grosso modo 60% der Männer in der Redaktion beherrschen die eigentlich idiotensicheren Handgriffe nicht, arbeiten aber dennoch täglich mit der auf redaktionelle Bedürfnisse zugeschnittenen Spitzentechnik. Da bei der Produktion von Fehlern ihr Output enorm und ihre Phantasie schier grenzenlos ist, suchen eigens bestallte Fachkräfte täglich in den Weiten der „Matrix“ nach „verschollenen“ Texten, tauschen liquidierte Computer aus oder parieren die immer wieder gern gestellte Frage: „Sag mal, kann es sein, daß das Ding vielleicht einfach nur böse ist?“ mit einem zwinkernden „durchaus, durchaus“.

Nun wären die genannten Umstände allein noch keineswegs geeignet, eine Katastrophe herbeizuführen. Auch anderenorts wird die revolutionäre Umgestaltung der Aufschreibsysteme unangenehme Folgen gezeitigt haben. Zur täglichen Beinahe -Havarie kommt es durch eine weitere taztypische Eigenart, die erst mit den oben erwähnten ihre grauenvolle Wirkung entfalten kann. Um das Problem zu verdeutlichen, ist allerdings ein kurzer Exkurs in unsere Kollektivpsyche erforderlich.

Woanders arbeiten Leute, die für eine bestimmte Tätigkeit eingestellt wurden. Sie üben diese Tätigkeit auch aus.

In der taz arbeiten Leute, weil sie „damals so freundlich waren“ und irgendwie „echt interessant“ wirkten. Offiziell werden sie ebenfalls für eine bestimmte Arbeit eingestellt. Doch schon nach kurzer Zeit sehen sich die Personen innerhalb des Projektes „nach was anderem“ um. Darin werden sie nach Kräften unterstützt, auch wenn die angestrebte Tätigkeit ihren Fähigkeiten sichtlich nicht entspricht. Neigung ist Trumpf! In allen Bereichen der taz übrigends. Es wird deutlich: Oberstes Ziel aller tazler ist es, nette Menschen um sich zu haben, „die nicht immer alles so eng sehen“. Menschen, die genauso sind wie sie: locker, unpünktlich, unzuver-, aber betont nachlässig, fanatisch querulant und immer leidenschaftlich bis zum verschnittenen 19-Zeiler. Damit sind wir am Kern des Problems: Ohne die tragenden Elemente des bürgerlichen Bewußtseins läßt sich die tazsche High-Tech gar nicht mehr plan- und sinnvoll anwenden.

Folgerichtig führt der chronische Mangel an sekundärtugendhaften Mitarbeitern und die ungebührlich hohe Zahl wertkonservativer Querulanten zu dem, was wir in der Technik gern als brillierende Schläfrigkeit bezeichnen; ein durch jahrelange Emsigkeit auf diesem Gebiet erworbener dauerhafter Grundzustand des Gemüts, der je nach Nachrichtenlage und Arbeitspensum auch schon mal präkomatöse Perfektion erreichen kann.

n diesem Gesamtzusammenhang wird unschwer deutlich, warum es bei uns völlig normal erscheint, wenn jemand noch nach Jahren einen Belichter nicht von einem Kopierer, einen Faxer nicht von einer Schreibmaschine unterscheiden kann: Es ist nicht wichtig und hat keine Folgen. Warum auch sollten wir kompetente Mitarbeiter wieder dem Arbeitsmarkt zuführen? Nur weil wir noch nicht genau in Erfahrung bringen konnten, für welchen Bereich sie eigentlich hochqualifiziert sind? Das ist doch unser Problem! Besitzt nicht ein jeder tief in seinem Inneren verborgene Qualitäten, die nur darauf warten, wachgeküßt zu werden? Viele Male haben wir hierfür den unwiderlegbaren Beweis angetreten. Jahrelang haben bei uns Leute „gearbeitet“, deren Hauptbeschäftigung niemandem so recht klar war. Und plötzlich explodierten sie wie aus Langzeithypnose erwachte Agenten, sogenannte „Schläfer“, die nur auf ein Codewort hin ihr blut'ges Handwerk verrichten.

Eine wirklich gute Crew muß sich eben erst einspielen. Weiß doch jeder. Und daß wir in der Zwischenzeit dennoch jeden Tag „die beste aller deutschen Tageszeitungen“ herausbringen, ist auch für uns immer aufs neue faszinierend, rätselhaft und eine irgendwie echt abenteuerliche Erfahrung.