Vergeßt mich!

■ Alain Jouffroy über Philippe Soupault

Alain Jouffroy, Dichter, Kunstkritiker und Begründer der „Poesies„-Reihe beim Verlag Gallimard, gehörte zum Surrealisten-Kreis Andre Bretons. Im letzten Jahr bereitete er ein Happening in dem Schloß des Marquis de Sade bei Avignon vor. Letzte Veröffentlichung: „Aimer David“, 1989. Zur Zeit arbeitet er an einem Buch über Rimbauds Zeit in Abessinien.

Wer war Philippe Soupault?

Er war ein Sohn Rimbauds - wie alle, wie Cendrars, Michel Leiris, etc. Diese Grundidee, alle alten europäischen „Geländer“ zu zerschlagen. Der Bruch mit Europa, mit dem Christentum, mit allen abendländischen Werten. Der Aufbruch zu den Barbaren, zu Fuß, ohne Krawatte und ohne Gepäck. Artaud nach Mexiko, Rimbaud zu den Stämmen der Gala. Die Suche nach dem Unbekannten, der Bruch mit den Grenzen des Abendlands - das Phantombild Afrika. Bis zur beat generation immer diese Figur des reisenden Dichters: der Poete-Voyageur. Aber es geht auch um einen neuen Zugriff auf die Realität, wo die poetische Erfahrung Praxis wird. Das ist die Moderne Rimbauds, und Soupault ist ihr erster Sohn. Soupault ist Rimbaud treuer geblieben als alle anderen. „Ich will, daß man mich endgültig vergißt“, hat er geschrieben.

Trotzdem, bevor wir ihn vergessen: Wie hat man sich einen surrealistischen Rebellen von 93 Jahren vorzustellen?

Er lebte in einem kleinen Zimmer im 16.Bezirk. Keine Bilder an den Wänden - nichts. Soupault war von einer außergewöhnlichen Bescheidenheit. Er unterschätzte sein Werk und sich selbst. Ein Mensch ohne jeden persönlichen Ehrgeiz. Was ihn nicht hinderte, manchmal sehr ungerecht und brutal zu sein, etwa gegenüber Cocteau. Ich glaube, er hielt sich bis zuletzt für einen Heranwachsenden. Er hat niemals seine Ideale verraten. Niemals!

Die Leute denken, erwachsen zu werden bedeute, wahrer zu werden. Unsinn. Wer seine Jugendideale verrät, ist ein Verräter an sich selbst. Die anderen kapitulierten, Soupault nicht, ebensowenig wie Rimbaud. Deswegen verachtete er die Literaten, die ihr Werk auf einem Verrat errichten, die Funktionäre der herrschenden Kultur werden.

Er kam aus einer sehr bourgeoisen Familie, mit der er absolut gebrochen hat durch sein Buch über Louis Renault, Le Grand Homme. Die anderen Surrealisten warfen ihm vor, englische Zigaretten zu rauchen. Aber gerade deswegen war er „heroischer“ als alle anderen, wie Adrienne Monnier sagte. Er haßte Cocteau, weil der zu viele Kompromisse mit der bürgerlichen Gesellschaft geschlossen hatte.

Wie war das Verhältnis Andre Bretons zu Soupault, nachdem Breton seinen ehemaligen Freund und Mitautor aus der surrealistischen Bewegung ausgeschlossen hatte?

Es war die Politik, die Soupault von der Bewegung entfernte. Natürlich war Soupault ein politisch denkender Mensch. Aber er war eigentlich immer mehr Dada als surrealistisch, immer gegen diese Liaison zwischen dem poetischen Wagnis, dem surrealistischen Abenteuer - das für ihn im Grunde dadaistisch blieb - und der Kommunistischen Partei. Soupault ging es um die disponibilite, Verfügbar -, Wachsein des Geistes für das Andere, um Leichtigkeit... Wie eine Feder, und nicht vollgestopft mit gewichtigen Ideen. Breton hat Soupault damals seine Leichtigkeit zum Vorwurf gemacht - genau diese Geistesgegenwart, durch die er die „Champs magnetiques“ schreiben konnte! -, weil die politische Lage „schwerer“ geworden war, mit dem Marokko -Krieg etc. Distanz, Unabhängigkeit - und Mißtrauen. Die Distanz wurde ihm übelgenommen. Er war immer woanders. In jedem der zwanzig Bezirke eine Freundin. Und reiste. Großartig! Aber es gab niemals einen offenen Kampf zwischen Breton und Soupault.

Breton sagte mir einmal, er sei ganz zufrieden, daß Soupault er selbst geblieben ist. Der Surrealismus ist eine kollektive Singularität: eine ultra-minoritäre Gruppe, die sich gegenseitig zerfleischt, zerstört, wiederherstellt, sich kritisiert, voranbringt, erneuert... Soupault ging es zutiefst gegen den Strich, sich einer solchen Gruppe anzuschließen. Deswegen auch der Satz, der ganz ähnlich von de Sade formuliert worden ist: Ich möchte, daß man mich endgültig vergißt. Sich dem Zugriff entziehen - selbst noch nach dem eigenen Tod. Die allerletzte Freiheit.

Tonband aufnahme: Alexander Smoltczy