: WELTMEISTER BRD
■ Reiseanalyse 1989: touristische Zwei-Drittel-Gesellschaft
Die Deutschen seien Weltmeister, titeln die Medien. (Noch) nicht im Fußball, aber im Reisen.
Alle Jahre wieder, zwischen Winter- und Sommersaison, wird die mehr oder minder interessierte Öffentlichkeit von namhaften Forschungsinstituten mit den neuesten Reisedaten versorgt. Volkszählung hin oder her (längst vergessen), wurde das bundesdeutsche Volk zum Reiseverhalten, zu Wünschen und Motiven und zu Reiseplänen repräsentativ befragt.
Sämtliche Reiserekorde der Vorjahre wurden gebrochen. Nach der Reiseanalyse 1989 des Starnberger Studienkreises für Tourismus lag die „Reiseintensität“ bei 66,8 Prozent. Im Klartext: 36,6 Millionen Bundesbürger über 14 Jahre haben 1989 eine oder mehrere Urlaubsreisen gemacht, die fünf Tage oder länger dauerten. Weltmeister im Reisen? Im Tourismus spiegelt sich das Schlagwort der „Zwei-Drittel-Gesellschaft“ wie in kaum einem anderen gesellschaftlichen Bereich. Rund 16 Millionen des Westdeutschen, ein Drittel der statistischen Gesamtbevölkerung, konnte oder wollte sich 1989 keine Urlaubsreise leisten. Und die gesellschaftliche Schere geht immer weiter auseinander: Blieb der Anteil der Nichtreisenden in den letzten Jahren relativ konstant, nahm die Zahl derer, die mehrmals im Jahr verreisen konnten, überproportional zu.
Alle sprachen von Algenpest und Buchungsrückgängen in Italien und Spanien. Im Reiseverhalten der Westgermanen fanden diese Horrornachrichten allerdings keinen Niederschlag. Beide Mittelmeerstaaten sind nach wie vor die beliebtesten Zielländer. Die prozentualen Einbußen liegen in einem äußerst bescheidenen Rahmen: Italien verlor im Vergleich zu 1988 magere 0,2 Prozentpunkte, Spanien 0,3 Prozent. Infolge der insgesamt höheren Reiseintensität legten beide Staaten in den absoluten Zahlen sogar noch zu: Mit 4,9 Millionen Touristen (plus 600.000) ist Spanien die Nummer eins, dicht gefolgt von Italien mit 4,8 Millionen Urlaubern (plus 200.000).
Der bundesdeutsche Tourist hat nicht nur ein kurzes Gedächtnis, sondern ist mindestens auf einem Auge blind. Über 42 Prozent der Urlauber wollen während ihrer Reise keine Umweltprobleme bemerkt haben. Und die Zahl derjenigen, die die Augen und die anderen Sinne offenhielten, ist bereits wieder rückläufig: Gut 14 Prozent sahen unsaubere Strände (minus zwei Prozent zu 1988); verbaute Landschaft bemerkten ebenfalls 14 (minus 1,6 Prozent); übermäßigen Lärm verspürten knapp 13 Prozent (minus 0,6 Prozent). Einzig das Waldsterben wurde stärker registriert: 300.000 Urlauber mehr sahen abgestorbene Bäume.
Kein Wunder, denn die Zahl der Pkw-Reisenden nahm weiter zu. 25 Millionen Bundesbürger stiegen 1989 in Benzin- und Dieselkisten (1,3 Millionen plus) und kutschierten sich und ihre Familien in die Feriengebiete. Weitere 8,5 Millionen benutzten die Kerosinbomber der Fluggesellschaften (plus 500.000). Lediglich schlappe 3,6 Millionen Urlauber verhielten sich umweltbewußt und quetschten sich in die vollen Züge. Damit weist die Bahn nur noch einen Anteil von 8,4 Prozent am Gesamturlaubsreiseverkehr auf; 1972 waren es noch 23 Prozent. Angesichts von Streckenstillegungen, Frequenzverdünnungen und kräfigenPreiserhöhungen überrascht diese Entwicklung nicht.
Die Ergebnisse der Reiseanalyse des kommenden Jahres wird diese Trends erneut bestätigen. Da hilft kein „Sanfter Tourismus“. Es gibt nicht Neues auf der (Reise-)Welt.
Reinhard Kuntzke
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