Militärische Drohgebärden gegen Litauen

■ Litauen appelliert an die Weltöffentlichkeit / Nur mit friedlichen Mitteln für die Unabhängigkeit / Heftiger Streit über das Recht zur Grenzkontrolle / Massendesertionen von Litauern aus der sowjetischen Armee / Gerassimow versichert, es werde keine Gewalt angewendet

Moskau/Vilnius (afp) - Das Parlament der Republik Litauen hat einen dramatischen Appell an die Nationen der Welt, ihre Regierungen und an alle Menschen guten Willens gerichtet, „gegen eine mögliche Anwendung von Gewalt und Zwang“ zu protestieren. In dem Appell wird von der Bedrohung gesprochen, die über Litauen schwebe. Die Sowjetunion wird dabei aber nicht beim Namen genannt. Präsident Landsbergis erklärte vor dem litauischen Parlament, sein Land werde weiter mit friedlichen Mitteln für die Unabhängigkeit kämpfen: „Wir werden mit unseren Schrotflinten nicht auf die Panzer schießen“.

Präsident Gorbatschow hat der litauischen Regierung ein Ultimatum von zwei Tagen gesetzt, um die Rekrutierung von litauischen Freiwilligen zur Bewachung der Grenze zur UdSSR zu unterbinden. Dem gegenüber beharrte Landsbergis auf der Respektierung des Rechts von Litauen, seine Grenzen selbst zu kontrollieren. Wenn sowjetische Behörden litauische Bürger beim Passieren der Grenzen behinderten, so sei dies „eine schwere Verletzung des Völkerrechts und der Menschenrechte“. Truppen des KGB hatten ihre Kontrollen an allen Grenzen Litauens verschärft. Sie verstärkten auch den Objektschutz - vor allem vor AKWs. In der Hauptstadt Vilnius wird ständig sowjetische Militärpräsenz demonstriert. Diese Drohgebärden haben viele litauische Soldaten dazu veranlaßt, aus der sowjetischen Armee zu desertieren. Für ihre Rückkehr setzte der Kommandant der baltischen Militärregion Kusnin eine Frist „deadline“ bis zum 24.März. Um die Sowjets zu beruhigen, ist die litauische Abteilung der unionsweiten paramilitärischen Freiwilligenorganisation „Gesellschaft zur Unterstützung der Armee“ angewiesen worden, ihre Waffen abzuliefern. Ministerpräsidentin Brunskiene will sich sogar dafür einsetzen, daß die litauischen Bürger ihre Jagdflinten abgeben.

Auch der Nervenkrieg über Rechtsfragen dauert an. Die sowjetische Generalstaatsanwaltschaft forderte die litauischen Kollegen auf, weiter das Unionsrecht anzuwenden, und schickte einen Pulk von Juristen nach Vilnius.

Der Sprecher des sowjetischen Außenministeriums, Gerassimow, versucht einstweilen, die wachsenden Sorgen des Westens wegen einer möglichen „militärischen Lösung“ zu zerstreuen. Auf die Frage, was geschehe, wenn Litauen den Anweisungen Gorbatschows nicht Folge leiste, erwiderte der Sprecher, es würden keine Truppen eingesetzt, um den Verbleib der Republik in der UdSSR zu erzwingen. „Niemand wird die Litauer angreifen.“ Unbeeindruckt von dieser Versicherung hat als erster Staat Dänemark beschlossen, eine Delegation von „Beobachtern“ nach Litauen zu entsenden.