Kampf um den „sensiblen Bereich“ im Rostocker Rathaus

■ DemonstrantInnen und Runder Tisch wollen OB Henning Schleiff und die rasante Verwandlung von Stasi-Mitarbeitern in Kinderkopfbildner stoppen

Als erste kapitulierten die Straßenbahnen vor den Menschenmassen, die sich am Donnerstag abend um 17 Uhr vor dem Rostokker Rathaus versammelt hatten. Sie blieben stecken. Tausende waren dem Aufruf des Runden Tisches Rostock gefolgt und demonstrierten für den Rücktritt des Stadtschulrates Gustav Bendlin, der hinter dem Rücken der Runden-Tisch-Delegierten Stasi-Leute als Lehrer eingestellt hatte, und für den Rücktritt von Rostocks Oberbürgermeister Henning Schleiff, der dafür die politische Verantwortung trage.

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Rostocks OB Henning Schleiff

„Rostocker Greif gegen Stasi und Schleiff“ verkündete ein Plakat. Viele Eltern waren mit ihren Kindern gekommen. „Ich will keine Stasi-Lehrer“ hatte ein Junge auf sein Pappschild gemalt. Der amtierende Vorsitzende des Runden Tisches, Pastor Vogt, unterstrich: Es gehe nicht darum, ehemalige Stasi-Mitarbeiter auszugrenzen, sondern um die Demokratisierung des speziellen Bereiches 'Bildungswesen‘.

Christoph Kleemann, Vertreter des Neuen Forums am Runden Tisch, beschuldigte OB Schleiff, die Grundlage des Runden Tisches verlassen zu haben, indem er ihn von einer geheimgehaltenen Ratssitzung ausschloß. Wenige Tage nach dieser Ratssitzung hatte die Stadtverordnetenversammlung Gustav Bendlin im Amt bestätigt. Deren Abgeordneten haben auch begriffen, daß sie verschaukelt worden sind. CDU, LDP und Demokratische Bauernpartei sind unter Protest aus der Versammlung ausgezogen.

Die neuen demokratischen Parteien haben eine Mehrheit in einer noch nicht existierenden Volkskammer, aber in Stadt -und Bezirksverwaltungen kämpft und trickst die PDS um jede Minute Macht, indem rasch noch ein paar

hilfreiche Fakten geschaffen werden. Wenn z.B. in Rostock die Kommunalwahl die alten SED-Räte von den Sitzen fegen sollte, dann hat der Stadtschulrat Gustav Bendlin immerhin zuvor noch ein paar verläßliche alte Genossen von der Stasi und aus den Bezirks-und Kreisleitungen von SED und FDJ abwahlsicher als LehrerInnen eingestellt. Insgesamt waren es vom 1.Dezember 89 bis zum 9.März '90 44 aus den „sensiblen Bereichen“. Vier von ihnen waren nie Pädagogen. Etliche andere hatten keine pädagogische Praxis oder diese vor 15 bis 20 Jahren aufgegeben. Seit Mitte Februar 89 hatte der Schulrat andere BewerberInnen abschlägig beschieden.

Am 23. Februar forderte der Runde Tisch einstimmig den Rücktritt des Stadtrats. Einen Monat lang stellte der Oberbürgermeister dessen Rücktritt in Aussicht. Ohne Folgen. Zwei Tage vor der Volkskammerwahl, am 16. März, war's genug. Der Runde Tisch platzte. Seine 36 VertreterInnen erklärten ihre Arbeit aus Protest gegen den Nicht-Rücktritt Bendlins für beendet. Keine Gegenstimmen, vier Enthaltungen von PDS (SED), DFD und Kulturbund. Der Runde

Tisch verlangte zudem, daß Oberbürgermeister Henning Schleiff die „politische Verantwortung für die Vorgänge übernimmt und zurücktritt.“ Der Runde Tisch rief für Donnerstag, 22. März, zur Demonstration vor dem Rathaus auf: „Für durchschaubare Demokratie. Gegen die alte Mafia.“

Was jetzt offener Konflikt ist, kokelte zwei Monate vor sich hin, von Henning Schleiff bis Mitte März versprechungsreich vor der Öffentlichkeit abgeschirmt. Am Anfang ging es darum zu verhindern, daß lehrunkundige Stasi -leute ausgerechnet im Bildungswesen eingestellt werden. Je länger, desto mehr ging es jedoch auch darum, den Verschleierungsmanövern von Stadtschulrat und Oberbürgermeister zu trotzen. Beide hatten ursprünglich die etwa 100 Mitglieder des Bürgerrates als basisdemokratisches Kontrollorgan des Stadt-Rats akzeptiert. Auch die Zusammenarbeit der Arbeitsgruppe Bildungswesen mit dem Schulrat Bendlin ging im Januar noch reibungslos. Als die AG zwei Briefe an 5.000 Rostocker Eltern und Schulen verschickte, in denen die Entstalinisierung und die Bildung von demokratischen Eltern-, Lehrer-und Schülerräten gefordert wurde, machte sich Bendlin letztere Forderung zu eigen.

Im Februar waren die Flitterwochen zuende. Bei der Arbeitsgruppe hatten sich Anrufe gehäuft, daß in den Schulen neue Lehrer auftauchten, deren Alter und Verhalten Fragen nach ihrer pädagogischen Qualifikation erregten. Nach einer ersten Anfrage der Arbeitsgruppe des Bürgerrats am 9.2. gab der Schulrat 27 Einstellungen aus den „sensiblen Bereichen“ wie z.B. SED-Bezirksleitung (4), Kreisleitung (6), FDJ -Bezirksleitung 5, Innenministerium/Volkspolizei 5) zu. Daß auch ein ehemaliger Stasi-Mitarbeiter darunter ist, erfuhren die BürgerrätInnen erst nach geziehlter Nachfrage. Der Schulrat verschanzte sich hinter dem Argument, persönliche Daten schützen zu müssen.

Am 23. Februar verlangt der Runde Tisch Bendlins Rücktritt. Und nun geht es rund. Unter Druck bietet Bendlin am 26.2. Rücktritt und Akteneinsicht an. Runder Tisch und AG des Bürgerrats bilden eine dreiköpfige Untersuchungskommission.

2.3.: Die Kommission berichtet dem Runden Tisch: Bendlin hat munter weiter aus den „sensiblen Bereichen“ Lehrkräfte eingestellt. Letzte Neueinstellung: 22. Februar. Inzwischen sind es nicht 27 sondern 35 „Sensible“. Der Runde Tisch verlangt Rücktritt Bendlins bis zum 6. März.

6.3. Schleiff zum Leiter des Runden Tisches Dr. Wieberg: Der Rücktritt ist erfolgt, steht aber erst am 8. in der Zeitung.

8.8.: Bendlin bietet über Ostsee-Zeitung seinen Rücktritt an, präsentiert sich gleichzeitig Direktorenkonferenz und Gewerkschaft 'Unterricht und Erziehung‘ als Verteidiger von Schulspeisung und Schulkindergärten und ehemaligen SED -Mitgliedern im Schuldienst, die der Runde Tisch mit seiner Rücktrittsforderung bedrohe. Die Gewerkschaft fordert zum Warnstreik für Bendlin auf, um die bedrohten sozialen Errungenschaften zu erhalten.

9.3.: Der Runde Tisch erfährt: Es sind nicht 35, sondern 44 „sensible“ Neueinstellungen. Er glaubt, daß Bendlin zurückgetreten ist und glaubt Hennig Schleiff, daß die Beratung der Stadtverordnetenversammlung am 15. 3. das nur noch formal bestätigen wird.

15.3.: Gustav Bendlin rechtfertigt sich vor der Stadtverordnetenversammlung, die bestätigt

ihn im Amt. Henning Schleiff hatte für seinen Rücktritt plädiert. Der Leiter des Runden Tisches, Dr. Wieberg, zur taz: „Hinter diesem Rauszögern durch Formalia steckt tatsächlich die Kameraderie unter Genossen.“ Dreimal wird am Runden Tisch Henning Schleiff zum Rücktritt aufgefordert, von SPD, von LDP und Katholischer Kirche. Schleif bleibt und beteuert, wie wichtig ihm die

Zusammenarbeit mit dem Runden Tisch ist. Wieberg: „Die stöhnen unter dem Runden Tisch. Wahrscheinlich wären sie froh um die letzten sechs Wochen ohne ihn.“ Die zuhilfe gerufene Öffentlichkeit muß zeigen, wieviel Kraft sie nach der Wahl der großen Retter zum Hinausbefördern der real existierenden Grabenkämpfer im Rathaus noch hat.

Uta Stolle