Rote Armee kontrolliert Litauens Hauptstadt

■ Panzer und Truppentransporter rücken in Vilnius vor / Internationale Botschafter zum Verlassen der Republik Litauen aufgefordert

Moskau (afp/taz) - Die sowjetische Zentralregierung hat in ihrem Nervenkrieg gegen das unabhängige Litauen in der Nacht zum Samstag die Daumenschrauben weiter angezogen. Rund hundert sowjetische Panzer und Truppentransporter rollten durch Vilnius und passierten um drei Uhr nachts das Parlamentsgebäude, in dem die Abgeordneten demonstrativ tagten. In der Morgensitzung des Parlaments erklärte Präsident Landsbergis: „Wir haben wirklich gespürt, daß wir uns in einem besetzten Land befinden. Leider geht der Nervenkrieg und der politische Druck weiter.“ Dennoch hält Landsbergis eine militärische Invervention für unwahrscheinlich: „Dies hätte auch negative Folgen für die UdSSR selbst“, erklärte er im litauischen Fernsehen.

Trotz der Bedrohungskulisse gab es informelle Gespräche zwischen Abgesandten der litauischen Führung und dem Vorsitzenden des Obersten Sowjets, Lukjanow. Bis jetzt lehnt es Moskau ab, Verhandlungen über die Unabhängigkeit mit Litauen aufzunehmen. In seiner Antwort auf Gorbatschows Ultimatum, die Werbung von Freiwilligen einzustellen, stellte Landsbergis am Wochenende klar, daß es keine litauischen militärischen Verbände gebe. Es würden nur Personen registriert, die im Bedarfsfall bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung helfen sollten. An den Aufbau einer Landwehr sei nie gedacht worden.

Ein weiteres Ultimatum, nach dem sich die rund tausend desertierten litauischen Soldaten bis Samstag in ihren Kasernen zurückmelden sollten, ist unbeachtet verstrichen. 30 von ihnen wiesen sich selbst in eine psychiatrische Klinik in Vilnius ein und unterstellten sich dem Schutz des Roten Kreuzes. Präsident Landsbergis appellierte an die Deserteure, in den Kirchen Zuflucht zu suchen, da Litauen sie nicht schützen könne. Der sowjetische Stabschef Warenikow hat gegenüber der 'Sowjetskaja Rossija‘ erklärt, bislang seien rund 5.500 Waffen abgegeben worden. Die Aufforderung, private Waffen wie z.B. Jagdgewehre abzugeben, wurde hingegen nicht befolgt. Nur ein paar Dutzend Flinten kamen zusammen. Stabschef Warennikow zeigte sich beleidigt angesichts des Vorschlags im litauischen Parlament, „Plastikwaffen in den Spielgeschäften zu kaufen, um mit deren Ablieferung die Sowjetunion zufriedenzustellen“.

Am Sonntag setzte die sowjetische Armee mit Hubschraubern und Panzern ihre Einschüchterungsmanöver fort. Die Abgeordneten des litauischen Parlaments ernannten den Geschäftsträger in den USA und dem Vatikan, Lozoraitis, zum Bevollmächtigten Litauens für den Fall, daß sie an der Fortsetzung ihrer Arbeit gehindert würden. Die USA haben die Sowjetunion vor der Anwendung von Gewalt gewarnt und „angemessene Maßnahmen“ angekündigt.

Am Freitag hatte die sowjetische Regierung alle westlichen Diplomaten aufgefordert, Litauen binnen zwölf Stunden zu verlassen, wogegen die USA protestiert hatten. Fortsetzung auf Seite 2

Mittlerweile haben auch die EG und skandinavischen Staaten an beide Seiten appelliert, den Verhandlungsweg einzuschlagen. Wie der taz-Korrespondent aus Schweden meldet, bereitet man sich dort auf eine Fluchtwelle aus Litauen vor.

Nach der litauischen hat nun auch die estnische Kommunistische Partei mit der sowjetischen Mutterpartei gebrochen. Ein Drittel der Abgeordneten, meist Angehörige der russischen Nationalität, die fast die Hälfte der Bewohner Estlands ausmachen, stimmte gegen die Trennung und wird sich als unabhängige Partei konstituieren. Die Spaltung wird erst im Oktober wirksam werden. Die Wahlen vom vergangenen Woche zum estnischen Parlament hatten keine klare Mehrheit für die Unabhängigkeit erbracht. Von 104 Sitzen erhielt die Volksfront 46, das einen gemässigten Unabhängigkeitskurs verfolgende Estland-Komitee erhielt über zwanzig, die russische Minderheit 27 Sitze.

Christian Semler