Zwischen Kirchturm und Schöppinger Berg

■ Eine „Villa Massimo“ im Westfälischen mit Ruhe, Apfelbäumchen, Kaminzimmer und PC-Arbeitsplätzen

Christine Schrenk

Im Garten hat der Geschäftsführer ein Apfelbäumchen gepflanzt. Da steht es nun, direkt vor dem Fenster der Gemeinschaftsküche. In der Gemeinschaftsküche steht der Geschäftsführer, Rolfrafael Schröer, und revanchiert sich für die Bemerkung, daß deutschen Männern die Baumpflanzerei wohl angeboren sei, mit einem Aufgesetzten.

Kultur auf dem Land hat auch immer etwas Bodenständiges. Vorbehalte, sagt Schröer, habe es anfangs durchaus gegeben gegen diese Institution im provinziellen Westen, die sich, halb kokettierend, jetzt „Künstlerdorf“ nennt. Ganz zu Anfang sei das Ganze ohnehin nicht mehr gewesen als eine kuriose Idee. An das heute gelegentlich als „westfälische Villa Massimo“ apostrophierte Kulturprojekt habe damals jedenfalls keiner gedacht.

Die Geschichte beginnt 1985, nahe der niederländischen Grenze, im westfälischen Schöppingen. Zu dieser Zeit herrschte noch Ruhe im Westmünsterland. Zwischen Kirchturm und Schöppinger Berg (158 m ü.M.), zwischen letzten Misthaufen und ersten Neubausiedlungen, lief alles in geordneten Bahnen. Unten im Ort arbeiteten Alt- und Neuschöppinger in Geschäften und Fabriken, oben, hügelaufwärts, thronte die Nato-Kaserne, die vier Jahre später als eine der meistgefilmten Übersiedlerstationen zum Sammelpunkt internationaler Journalistenheere und Fernsehteams werden sollte. 1985 aber war es in der 5.000 -Seelen-Gemeinde und um sie herum noch ziemlich still. Zu still, wie einige kulturambitionierte Anwohner meinten.

Bis dato ausgestattet mit der typisch westfälisch -kleinstädtischen Infrastruktur, mit allerlei mittelständischen Betrieben, Reiter-, Tennis- und Angelsportverein, einem Amateuroberliga-Fußballklub, Orgelkonzerten und einundneunzig Prozent eingetragenen Katholiken -, begaben sich die Schöppinger also auf die Suche nach einem neuen Renommee.

Ein Stadtkünstler sollte gefunden werden und, wenn möglich, auch gleich ein stadteigener Vertreter der schreibenden Zunft, denn Stadtschreiber standen zu dieser Zeit gerade wieder hoch im Kurs. Wohl weil es in der Gemeindekasse an Barem mangelte, entstand der Plan, die zukünftigen Meister von Schöppingen zwar nicht mit festem Salär zu versorgen, dafür aber mit einem preisgünstigen Domizil, umgebaut ganz nach den Wünschen des anzusiedelnden Künstlervolks. „Mit Atelier und so und allem, was die so brauchen.“

Bald schon liefen die Buschtelefone heiß. Während Volkshochschulleiter und Gemeindedirektor das Gelände sondierten, machte das Gerücht von den erwarteten Mitbewohnern die Runde - und erreichte schließlich Düsseldorf, wo Rolfrafael Schröer noch im selbstkreierten „Literaturbüro“ residierte. Schröer, „von Haus aus“ Lyriker und Essayist, Dramatiker und Schauspieler, hatte sich in einigen arbeitsamen Jahren als „Vater der Literaturbüros“ bundesweit einen guten Ruf in Sachen öffentlicher Kulturvermittlung verschafft. Als er nun von den Schöppinger Plänen erfuhr, war der gebürtige Sachse „gleich begeistert“. Dem Zufall sei es zu verdanken, so erzählt er, daß aus dem anvisierten Lokalprojekt eine Angelegenheit größeren Umfangs wurde. Aus der münsterländischen Gerüchteküche kam nämlich noch eine zweite Information. „Noch am selben Tag hörte ich von einem alten, leerstehenden Schulzenhof, nahe dem Ortszentrum, der zu verfallen drohte. Nato-Soldaten und verschiedene Jugendgruppen hatten ihn früher genutzt, renoviert aber hatte keiner, und so befand sich das ganze Anwesen in einem recht jämmerlichen Zustand.“ Nur konsequent wäre es doch, schlug Schröer den Gemeindeverwaltern vor, diesen Hof instand zu setzen und auf dem großen Areal „nicht nur einen, sondern gleich mehrere Autoren und Autorinnen aufzunehmen“. Die Idee war komplett, nachdem, gleich nebenan, noch ein zweiter Hof gefunden werden konnte - als neue Werk- und Aufenthaltsstätte für Bildende Künstlerinnen und Künstler.

Die erste Tischrunde von Gemeindeersten und Kunstbeflissenen einigte sich schnell: Schöppingen sollte künftig nicht, wie so viele andere, mit Stadtkünstlern und Stadtschreibern aufwarten, Schöppingen sollte ein ganzes „Künstlerdorf“ bekommen; „ein Dorf in der Gemeinde, sozusagen“.

Ausgerechnet im traditionell erzkonservativen Münsterland wollte man kreativen Menschen fortan bieten, was ihnen dieser Staat nur selten gönnt: „Ruhe und Muße, Konzentration und Stille. Und die Möglichkeit, wann immer sie möchten, sich mit Kolleginnen und Kollegen über die eigene Arbeit auszutauschen.“ Ein Stipendium könnte helfen, so die zweite Idee, wenigstens vorübergehend materielle Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Ganz so wie in der römischen „Villa“.

Der dann folgende lange Marsch durch die Institutionen, angeführt vom neuinstallierten Geschäftsführer Rolfrafael Schröer, endete zunächst in Düsseldorf, bei Kultusminister Hans Schwier, der „vorerst einmal gewisse Zweifel“ an den Plänen äußerte, doch versprach, darüber nachzudenken.

Ob es nun dem ganz speziellen Charisma des sprachgewandten Kulturbehördenanimateurs Schröer zu verdanken ist, daß die Herrschaften an den entscheidenden Stellen dann schließlich ihr Jawort zu dem Sechs-Millionen-Projekt „Künstlerdorf“ gaben - oder ob man sich diesen „doch eigentlich viel zu großen Schuh“ (O-Ton aus der Nachbarschaft) nur anzog, weil ein „kulturelles und geistiges Zentrum“ (Schröer) auch einem Provinzstädtchen gut ins unternehmerische Konzept paßt, darüber herrscht in Schöppingen Schweigen.

Fertiggestellt ist bisher nur der erste Teil des Projekts, der „Hof der Literaten“. Der aber läßt schon ahnen, daß das Geld aus Gemeindesäckel und Bund-Länder-Programm besser angelegt ist, als vorschnelle Zweifler zunächst glaubten. Wenn erst, voraussichtlich im kommenden September, der nur wenige Meter entfernte „Hof der Bildenden Künste“ und eine nahe gelegene Scheune fertig ausgebaut sind, kann sich die versammelte KünstlerInnenschaft, jeweils für drei bis sechs Monate, an sechs Einzelappartements, zwei Mehrzimmerwohnungen, Seminarräumen, einigen PC -Arbeitsplätzen, einer Ausleihbibliothek, Küche, Speiseraum, Kaminzimmer, einer Bühne, einem Lesepavillon und acht Ateliers erfreuen. Außerdem ist die Einrichtung einer gut ausgestatteten Druckwerkstatt geplant; auch ein Webstudio wird es geben, ein großes Bildhaueratelier, eine Töpfer-, eine Metall- und eine Holzwerkstatt und, im alten Torhaus daneben, einen ständigen Ausstellungsraum.

„Alles da und alles nur vom Feinsten“, resümierten erste Besucher. Doch auch in Schöppingen weiß man, daß eine reiche Ausstattung noch längst kein „Künstlerdorf“ macht. Vor den Genuß ländlicher Ruhe und funktioneller Vielfalt haben die Münsterländer ein „Vergabeverfahren“ gesetzt. Ein Kuratorium, besetzt mit Fachleuten aus den Bereichen Kunst und Literatur sowie mit Vertreterinnen und Vertretern von Kreis, Gemeinde und Regierungspräsidium, soll entscheiden, wer den Zuschlag für ein viertel- oder halbjährliches Stipendium erhält.

Und hier nun beginnt der Geschichte zweiter Teil. Seither nämlich geistern übers platte Land Worte wie „Kultursponsoring“ und „Mäzenatentum“, geht es um „Kunstproduktion“ und „Kunstvermittlungstheorien“, aber auch um „Bürgernähe“ und Lesungen am Kamin.

Plötzlich macht sich Widersprüchliches breit im Vechte-Tal, und die Organisatoren vom Kuratorium, als Kulturspezialisten durchaus auch urbane Verhältnisse gewohnt, finden sich verstrickt in Diskussionen, die hier, neu und ungewohnt, in einem ganz anderen Zusammenhang erscheinen.

Die müssen, wann immer sie wollen, „ihre Ruhe haben“, darüber ist man sich einig, ungestört von Diskussionen und Problemen ihrer Umwelt aber dürfen sie auch hier nicht sein. Der Stipendientopf muß gefüllt werden, „eine direkte Abhängigkeit vom Sponsor aber darf es nicht geben.“ Schließlich soll Schöppingen „nach außen wirken“, doch den schon üblichen touristischen Kulturbetrieb lehnen die Neuschöppinger ab.

Da spricht Rolfrafael Schröer aus jahrelanger „Literaturbüro„-Erfahrung, wenn er behauptet: „Es wäre relativ leicht, hier solch einen Literaturbetrieb aufzuziehen, nach dem Motto: 'Kommt von Düsseldorf, fliegt hier ein, radelt hierher, das Grüne Band Münsterland (Name des regionalen Touristikverbandes, C.S.) wird euch leiten‘ -, und dann gibt es Literatur mit Eingewecktem und so weiter.“

„Wir müssen uns schon klarwerden darüber, was wir wollen“, gibt der erste Vorsitzende des Kuratoriums, der münstersche Kunstprofessor Udo Scheel, zu Protokoll. „Ein nostalgisches Post-Worpswede jedenfalls wollen wir nicht.“

Die stellvertretende Vorsitzende und Literatin Monika Walther antwortet auf die Frage, wie denn der oft erwähnte „Kontakt zur Bevölkerung“ hergestellt werden soll: „Wir möchten hier nicht den üblichen Kulturmatsch liefern, dieses sogenannte „kulturelle Umfeld“, für das die Kulturämter zumeist ihre Etats verwenden. Wir möchten keine weitere Bedürfnisbefriedigungsanstalt für Leute, die es, aus welchen Gründen auch immer, mal wieder aufs Land zieht und denen es eigentlich nur um die eigene Eitelkeit geht, wenn sie sich bei irgendwelchen Lesungen und Matinees profilieren“. Auch der Geschäftsführer hofft für Schöppingen eher auf das direkte Gespräch, „das sich einfach so ergibt, aus ehrlichem Interesse an dem, was die Künstlerinnen und Künstler hier machen.“

Die Gretchenfrage nach der Eignung Schöppingens als anregendes Kurzzeitdomizil zur künstlerischen Produktion und Produktivität beantwortet das Vorstandsgespann Walther und Scheel vorsichtig: Man wird sehen. Es sei eben auch eine sehr persönliche Sache, ob jemand mit einer städtisch -turbulenten oder eher mit einer ländlich-ruhigen Atmosphäre zurechtkomme.

Die berühmte George Sand hat es, das hat der Volkshochschulleiter recherchiert, einmal so gesehen: „Was mich anbelangt, so habe ich mich auf den Weg gemacht, um ein Ruhebedürfnis zu stillen... Da es uns in dieser Welt, die wir uns gezimmert haben, an Zeit für alles mangelt, dachte ich, daß sich ein ruhiger, abgelegener Schlupfwinkel finden lassen müßte, wo ich keine Karten zu schreiben, keine Zeitungen zu lesen und keine Besuche zu empfangen brauchte; wo ich ständig mein Hauskleid tragen könnte, wo der Tag zwölf Stunden hätte, wo ich aller gesellschaftlichen Pflichten ledig wäre; wo ich mich freimachen könnte von der geistigen Unrast...“

Das war in Paris, in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, etwa zu der Zeit, als in Schöppingen die Bauerndynastie Schulze mit dem Bau ihrer beiden Höfe begann. Manchmal hat Kultur auf dem Land auch was Revolutionäres.

Noch bis zum 31.März 1990 können sich Literaten und Literatinnen, Künstlerinnen und Künstler aus dem In- und Ausland um Aufnahme in das Künstlerdorf bemühen. Zur Stipendienvergabe 1990 stehen insgesamt zunächst 80.000 DM zur Verfügung. Als Bewerbungsunterlagen werden benötigt: Vita, Darstellung des künstlerischen Werdegangs, Nennung der gewünschten Aufenthaltsdauer sowie Werkbeispiele. Bei LiteratInnen sind dies 20 Manuskriptseiten neuen Textes und die letzten zwei Buch-, Theater- oder Hörspielveröffentlichungen. Im Bereich der Bildenden Kunst sollten die Beispiele aus Fotos, Katalogen, Plakaten bestehen. Die Kontaktadresse: Geschäftsführer des Künstlerdorfes Schöppingen, Rolfrafael Schröer, Postfach 1107, 4437 Schöppingen, Tel. 02555/577.