: Wer sind die kommenden Sündenböcke?
Die Folgen der Wahlen in der DDR - ein Nachtrag ■ G A S T K O M M E N T A R
Die Intellektuellen hüben und drüben sind sich einig - die Ursache für das Wahlergebnis bei den ersten freien Wahlen nach 40 Jahren sei der run auf den Wohlstand, die Wahl des Mannes, der angeblich das Geld verteilt.
Ich frage mich, ob diese Interpretation nicht etwas zu kurz greift beziehungsweise einen anderen Gesichtspunkt zu wenig berücksichtigt. Ist die Bevölkerung der DDR wirklich so arm, daß sie, nur um des Geldes willen, die Freiheit, für die sie vorher auf die Straße gegangen ist, nun gleich wieder vergißt.
Hat nicht auch Kohls „Herumgeeiere“ in der Frage der polnischen Westgrenze hervorragend an weit verbreitete antipolnische Ressentiments in der DDR-Bevölkerung angeknüpft? Ging es nicht auch darum, den Mann, der allenthalben zum Ausdruck bringt: „Wir Deutschen sind wieder wer!“ zu wählen?
Es wird doch niemand ersnthaft behaupten wollen, die Wähler der DDR hätten sich lediglich für das bessere wirtschaftliche Wiederaufbauprogramm entschieden. Kohl hat auf die nationale Karte gesetzt und er hat damit haushoch gewonnen.
Hätte man nicht erwarten können, daß Menschen in 40 Jahren Unterdrückung etwas gelernt haben? Ich hatte gehofft, daß es den Menschen, die für ihre Freiheit auf die Straße gegangen sind, darum ging, etwas Neues aufzubauen, ihre Ideen nicht von einem neuen Materialismus abhängig zu machen.
Stattdessen hat die große Mehrheit blind rechts gewählt. Was passiert, wenn Kohl nun die Erwartungen nicht erfüllt oder nicht erfüllen kann? Was passiert, wenn die Menschen Wohlstand und Nation gewählt haben, und es kommt nur die Nation?
In solchen Fällen braucht man Sündenböcke, und es ist bereits jetzt klar, wo diese zu suchen sind. Schuld am Elend der Deutschen sind alle Nichtdeutschen. Die Nachbarvölker, die den Deutschen die Wiedervereinigung nicht gönnen, vor allem aber die Ausländer im Lande.
Erst kommt: Verkauft nicht an Polen! - dann: Kauft nicht bei Türken!
Ist das die freiheitliche Demokratie, nach der alle streben?
Sevim Celebi
Die Autorin lebt als Türkin seit 20 Jahren in West-Berlin und war MdA der AL.
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