Der Sieg der Puschen-Fraktion

Unter den Zugvögeln setzen sich die Stubenhocker durch: Immer mehr Arten bleiben im milden Winter zu Hause / Vogelforscher vom Bodensee haben das Geheimnis um die große Reise in den Süden gelüftet  ■  Von Bärbel Petersen

„Herr Rechnungsrat Meyer befindet sich seit dem 1.April im Ruhestand und macht nun täglich seinen behaglichen Nachmittagsbummel, wobei er mit Vorliebe auf die Stimmen gefiederter Sänger lauscht, denn er ist ein alter 'Vogelnarr‘, nebenbei gesagt eine der sympathischsten Klassen des im allgemeinen ziemlich ekligen Menschengeschlechts. Plötzlich bleibt der alte Rechnungsrat wie verzückt stehen und hält lauschend die Hand an das schon etwas schwerhörige Ohr. Die Nachtigall ist wieder da!“

Diese Zeilen stammen aus einem Büchlein der 20er Jahre. Der Autor Kurt Floericke, selbst ein leidenschaftlicher Vogelnarr, untersucht in seiner Publikation Vögel auf der Reise das Phänomen des Vogelzugs. Für ihn stellt sich die Vogelzugforschung nicht nur „unendlich schwierig“, sondern auch „unendlich reizvoll“ dar: „Wer sich eingehend mit dem Vogelzug befaßt, bleibt Idealist, muß es bleiben, und ist gefeit gegen den öden Materialismus.“

Idealisten sind wohl auch die Vogelforscher in Radolfzell am Bodensee. Seit Jahren beobachten sie mühselig und zeitaufwendig die periodischen Völkerwanderungen der kleinen Federtiere. Jetzt legten Peter Berthold und seine Vogelmannschaft erste Resultate ihrer Detektivarbeit vor. Ergebnis: Immer mehr Zugvögel haben keine Lust mehr, in den warmen Süden zu fliegen. Viele wollen wegen der zunehmend milden Winter lieber hierbleiben.

Ein rätselhafter

Mechanismus

Was die Vogelforscher (Ornithologen) aus Radolfzell bei ihren Beobachtungen herausfanden, notierte der Vogelkundler Floericke schon vor über 60 Jahren: „Beständig mehren sich die Fälle, wo Vögel, die früher als ausgesprochene Wanderer galten, den Winter über bei uns bleiben und getreulich in unmittelbarer Nähe des alten Nestes ausharren, andere nur streichen, statt zu ziehen.“ Aber beweisen konnte er seine Entdeckungen nicht. Das gelang jetzt den Ornithologen des Max-Planck-Instituts für Verhaltensphysiologie, Vogelwarte Radolfzell.

Sie haben die Teilzieher unter den Zugvögeln aufs Korn genommen. Diese Spezies, denen ein variables Zugverhalten eigen ist, sind unter den Zugvögeln am häufigsten anzutreffen. Manche von ihnen ziehen gen Süden, andere bleiben als sogenannte Nichtzieher im Brutgebiet. Aber was löst das Reisen oder Hierbleiben aus? Eines ist zumindest sicher: Hat sich ein Vogel für das Ziehen oder Ausharren entschieden, dann währt dies ein ganzes Vogelleben lang. Die Ornithologen haben dafür zwei Hypothesen aufgestellt. Die erste führt das Zugverhalten auf genetische Ursachen zurück. Das heißt, es ist den Vögeln schon mit ins Nest gelegt, ob sie als Zugvogel auserkoren sind oder nicht. Die andere These macht äußere Einflüsse dafür verantwortlich: Schwächere Vögel werden durch stärkere Artgenossen verdrängt und flüchten per Vogelzug in wärmere Gefilde.

Um nun endlich Gewißheit über den rätselhaften Mechanismus zu erlangen, entschlossen sich die Radolfzeller zu einem umfangreichen Experiment. Mehr als 250 nestjunge Mönchsgrasmücken wurden aus Südfrankreich an den Bodensee verfrachtet. Diese Grasmückenart - kleine, lebhafte, insektenfressende Vögel - sind typische Teilzieher. Drei Viertel dieser Art ziehen regelmäßig im Herbst bis nach Spanien, Portugal, Italien und Nordafrika. Der Rest überwintert zu Hause.

In Radolfzell hat jede „Mücke“ ihr eigenes Appartement. Einzeln deshalb, weil jeder Vogel auf sein individuelles Zugverhalten geprüft werden mußte. Als Maß für dieses Verhalten griffen die Vogelforscher zu folgendem Trick: Die Sitzstangen in den Käfigen versahen sie mit Sensoren, die jeden Hüpfer der Vögel aufmerksam registrierten. Besonders im Herbst, wenn im Freiland der Vogelflug einsetzt, juckt es den Käfigbewohnern kräftig in den Füßen. Diese „Hüpfaktivität“ legten die Ornithologen als Reisefieber oder Wanderlust aus.

Das Resultat bestätigte bisherige Erkenntnisse über das Zugverhalten der Mönchsgrasmücken. Wie im Freiland verspürten auch im Käfig drei Viertel der Appartement -Bewohner Reisegelüste, ein Viertel dagegen entpuppte sich als Reisemuffel. Peter Berthold von der Vogelwarte Radolfzell sieht darin die genetische Hypothese bestätigt: „Denn andernfalls hätten sich die Vögel weitgehend einheitlich verhalten... entweder alle als Zieher, weil sie sich von Käfig zu Käfig doch recht nahe auf der Pelle saßen

-oder aber alle als Nichtzieher, weil keiner seinem Nachbarn unmittelbar ins Gehege kommen konnte und stets ausreichend Futter geboten wurde.“

Wirkliche Gewißheit schaffte aber erst der nächste Versuch, ein sogenanntes Zweiweg-Selektionsexperiment. Ins praktische Leben übersetzt: Durch gezielte Heiratsvermittlung wurden Brutpaare mit gleichem Zugverhalten zusammengesperrt. Das Ergebnis verblüffte die Ornithologen nicht. Die gezielte Paarung verstärkte bereits vorhandene Verhaltensweisen. Bei den „Reisekadern“ traten unter den Nachkommen der ersten Generation häufiger Zugvögel (fast 85 Prozent) auf, unter den Nichtziehern mehr „Sitzenbleiber“ (fast 50 Prozent). Ob ein Vogel zieht oder bleibt, ist nach den Erkenntnissen der Ornithologen aber nicht nur von einem einzigen Gen abhängig. Ein ganzer Satz von Erbanlagen, in denen sich sowohl Anteile für Ziehen als auch Anteile für Nichtziehen plaziert haben, steuert nach einem Schwellenwert-Prinzip das künftige Verhalten. Je nach Anzahl der jeweiligen Genanteile wird das Zugverhalten bestimmt und ist damit genetisch gesteuert, also erblich.

Die Radolfzeller wollten es noch genauer wissen. Zieher aus der ersten Generation wurden wieder untereinander gepaart. Das Gleiche geschah mit den Nichtziehern. Bereits nach drei Generationen stellte sich bei den zuglustigen Mönchsgrasmücken eine hundertprozentige Zugvogel-Population ein. Die Nichtzieher reagierten etwas träger und zeigten erst in der vierten bis sechsten Generation zu 90 bis 100 Prozent Standvogel-Allüren. Mit der Entdeckung, daß sich das erblich festgelegte Wanderverhalten innerhalb von nur drei bis sechs Generationen vollständig ändern kann, hatten die Ornithologen nicht gerechnet. „Denn“, so Berthold, „für derart große Schritte in der Mikroevolution wurden bei Wirbeltieren noch bis vor kurzem Zeitspannen von Jahrhunderten oder wenigstens Jahrzehnten veranschlagt. Offenbar passen sich die Vögel viel schneller an die veränderte Umwelt an.“ Dazu zählt er die Klimaveränderungen.

Amsel, Drossel, Fink

und Star ...

Milde Winter begünstigen die „Sitzenbleiber“. Noch ehe die Rückkehrer im Frühjahr eintreffen, besetzen die Überwinterer die besten Nistplätze und brüten schon. Aufgrund dieses Heimvorteils werden sich die „Sitzenbleiber“ rasant vermehren. Ihre reisefreudigen Artgenossen müssen mit schlechteren Quartieren vorliebnehmen und haben das Nachsehen. Jetzt wurde beobachtet, daß typische Teilzieher, die in milden Wintern nur wenig oder gar nicht ziehen, „standhaft“ zu werden scheinen. Zu ihnen gehören Amseln, Rotkehlchen, Stare, Feldlerchen und Singdrosseln.

Ornithologe Berthold glaubt sogar, daß der Vogelzug, jedenfalls der Langstreckenzug, innerhalb der nächsten Jahre vollständig zum Erliegen kommt. Sollten die Zugvögel ausbleiben, würde die heimische Vogelwelt aber erheblich an Arten verarmen. „Allerweltsvögel“ wie Amseln, Stare und Kohlmeisen könnten ihre Nester zu ganzjährigen Festungen ausbauen und Schwächere wie bestimmte Schwalbenarten, Pirole und den Kuckuck vertreiben.

Berthold sieht noch eine andere Gefahr durch die Klimakatastrophe: In Afrika dehnen sich die Dürregebiete immer mehr aus, und viele Zugvögel verlieren dadurch ihre Winterquartiere. Die Beobachtungen der Vogelbestände in den letzten 20 Jahren faßt der Vogelkundler aus Radolfzell so zusammen: „Wir verzeichnen erhebliche Rückgänge bei den Weitstreckenziehern; weniger stark sind die Einbußen bei Mittelstreckenziehern, und bei den Standvögeln finden wir stabile Verhältnisse, zum Teil sogar Zunahmen.“

Vögel scheinen sich bereits in die vom vernunftbegabtesten aller Tiere verursachte Klimakatastrophe zu fügen. Immer mehr Vogelkenner wollen diese Kassandra-Rufe im Fiederkleid nicht länger überhören. Meister Floericke wußte noch nichts von der Klimakatastrophe, doch beobachtete auch er in weiser Vorausschau, daß milde Winter das Zugverhalten durcheinanderbringen: „So gewaltig und unwiderstehlich der Zuginstinkt uns gegenwärtig auch noch erscheinen mag, ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, daß er in sichtlichem Abflauen ist.“