: Die Hängepartie beginnt
■ Zum Streit um die Stasi-Hinterlassenschaft
Die große Koalition der Verdrängung formiert sich. Von Stasi -General Engelhardt über BRD-Innenminister Schäuble, von Spitzenpolitikern der CDU-West über die CDU-Ost schält sich langsam eine gemeinsame Linie heraus die vor allem ein Ziel formuliert: keine Entnazifizierung - oder präziser, Entstasifizierungsverfahren in der DDR. Vierzig Jahre Stasi -Denunziation, Unterwanderung, willkürliche Verhaftungen, Verdrängung in die Emigration - Schwamm drüber und die Ärmel aufkrempeln, alles andere stört nur die weitere Entwicklung. Hat die Empörung über den Stasi-Staat ihre Schuldigkeit getan, stört die Vergangenheitsbewältigung nun nur noch beim Aufbau der Vereinigung?
Die Lage ist für alle Beteiligten zugegebenermaßen kompliziert. Unbewiesene Behauptungen über eine frühere Stasi-Mitarbeit jetziger Spitzenpolitiker, lanciert durch Leute, die nur aus der „Firma“ kommen können, deuten bereits an, welches politische Manipulationsmaterial in den Aktenkilometern der Stasi gelagert ist. Um solchen Manövern zukünftig vorzubeugen, gibt es gar keinen anderen Weg, als den Lackmustest für politische Funktionsträger. Nur, wer stellt das Unbedenklichkeitszertifikat aus, wer bekommt den Zugriff auf den politischen Sprengstoff?
Die Vertreter des Bündnis 90 fordern zu Recht, was noch vor wenigen Wochen in der DDR eine Selbstverständlichkeit gewesen wäre: keine Stasi-Mitarbeiter in Volkskammer und Regierung. Und was ist mit der Vergangenheit der Richter, Bürgermeister, Lehrer, praktisch des gesamten öffentlichen Dienstes? Praktisch gibt es dafür nur eine Lösung: Öffentlichkeit total. Das gesamte Material der Stasi muß öffentlich zugänglich gemacht werden, jeder soll lesen können, was die Schnüffler zusammengetragen haben. Nur so könnte verhindert werden, daß interessierte Kreise Spielraum für Erpressungsmanöver erhalten, die die politische Kultur des Landes noch über Jahre belasten können. Alle anderen Alternativen sind unbefriedigende Kompromißlösungen, die der Manipulation Tür und Tor öffnen. Wissen ist Macht - wenn man verhindern will, daß diese Macht zukünftig in der politischen Auseinandersetzung eine Rolle spielt, muß man es allen zugänglich machen. Das wäre im übrigen die einzige Garantie gegen die begründete Befürchtung, daß ein zukünftiger gesamtdeutscher Geheimdienst sich kräftig aus dem ehemaligen Stasi-Fundus bedient.
Jürgen Gottschlich
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