Einstweiliges Ende des Sonnenaufgangs

■ Identitätskrise in Japan - die Zeit des stetigen Machtzuwachses ist vorbei

Der japanische Höhenflug scheint gestoppt - zumindest, wenn man auf die Börse blickt. Zur Notwendigkeit wird die Suche nach den tatsächlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stärken. Doch die harsche US-Kritik am japanischen Handelsbilanzüberschuß hat Regierende und Unternehmer in Tokio verunsichert. Darunter mischt sich die alte japanische Angst, vom Lauf der Dinge auf dieser Welt ausgeschlossen zu sein, insbesondere von den neuen Märkten in Europa. Nur wenige haben die Souveränität und die internationale Erfahrung des Nissan-Präsidenten Takashi Ishihara, der im Interview offen über die Gefahren für Japan redet, auch über die Provinzialität der eigenen Politiker.

Fast unmerklich hatte die Talfahrt begonnen, nachdem es noch zur Jahreswende so schien, als habe die Wirtschaft im Land der aufgehenden Sonne lediglich einen weiteren Gipfel erreicht. Doch erst mit dem Kurssturz der letzten Woche und dem heftigen Auf und Ab, das die Aktienbörse von Tokio seither täglich meldet, zeichnet sich der Beginn einer Identitätskrise der jungen Supermacht ab, die auch in der Gesellschaft weite Kreise zieht. Mit dem Nikkei-Index stürzte mehr als nur der Aktienkurs, der Mythos des ewigen Machtzuflusses in Form des Geldes ist gebrochen.

Schon im Januar reagierte der Nikkei negativ auf die Ereignisse in der Sowjetunion. Das war ungewöhnlich genug, nachdem er fünf Jahre lang nahezu ununterbrochen angestiegen war, was immer auch in der Welt passierte. Im Februar machte auch der Wahlsieg der Regierungspartei die Verluste an der Börse nicht wett; im Gegenteil: Auf die Wahl folgte der tiefste Tagessturz seit dem „schwarzen Montag“ im Oktober 1987. Der wurde noch mit bevorstehenden Zinserhöhungen begründet. Die kamen tatsächlich im März - am vergangenen Dienstag hob die Bank of Japan den Leitzinssatz von 4,25 auf 5,25 Prozent an, aber schon drei Monate lang waren die Tokioter Aktien gefallen.

Der Nikkei verlor in dieser Zeit ein Viertel seines Wertes. Ende vergangener Woche hatten sich 900 Milliarden Dollar in Luft aufgelöst. Das entspricht der dreifachen Summe dessen, was japanische Unternehmen in den letzten Jahren im Ausland investierten und damit die Welt erregten. Seinen vorläufigen Tiefstpunkt erreichte der Tokioter Börsenindex am Donnerstag (28.971 Punkte), als er kurzzeitig auf den Stand vom November 1988 zurückfiel. Zwar erreichte der Nikkei am Montag abend erneut 31.840 Punkte, doch das Ende des japanischen Traums meldete die US-Börsenfirma Morgan Stanley aus New York: Erstmals seit dem „schwarzen Montag“ 1987 hatte Tokio seinen Platz als größte Weltbörse wieder an New York abgetreten. Stanley Morgan gab der Tokioter Börse noch einen Weltmarktanteil von 32,5 Prozent (New York: 34,2, Frankfurt: 4,7 Prozent). Und mit dem Nikkei verlor auch der Yen gegenüber Dollar und DM an Wert.

Am Wochenende dann verkündet auch Nippons führendes Wirtschaftsblatt 'Nihon Keizai‘ nach langem Zögern den „ökonomischen Wendepunkt“. Der Londoner 'Economist‘ bemerkt trocken: „Jetzt weiß jeder, daß die Party (in Japan) vorbei ist.“ In Tokio herrscht ein neuer Ton. „Mit dem Spekulantenmarkt ist es vorbei“, sagt Toshihiko Yoshimi vom Großinvestor Yamaichi Securities. „Wir werden Jahre brauchen, um den alten Höchststand wieder zu erreichen. Das neureiche Japan ist gerade über den Rand einer tiefen Schlucht gestürzt.“ Die Ängste bringt der Tokioter Ökonom Robert Feldman im Dienst von Salomon Brothers auf den Punkt: „Jetzt gerade ist Japan völlig isoliert.“

Das Unwägbare ist dabei vorläufig nicht wirtschaftlicher, sondern eher psychologischer Art. „Die globale Partnerschaft zwischen den USA und Japan ist in Gefahr“, erklärte US -Präsident George Bush nicht weniger als 14 Tage nach den bisher erfolglosen Verhandlungen über den japanischen Handelsbilanzüberschuß, der 1989 gegenüber den USA rund 49 Milliarden Dollar betrug. Die Worte Bushs hat in Tokio niemand überhört. Am Wochenende eilte Finanzminister Ryutaro Hashimoto über den Stillen Ozean, um mit seinem US-Kollegen Nicholas Brady Maßnahmen zur Stützung des schwachen Yen zu verabreden. Doch Washington ließ durchblicken, daß die Dinge aus US-Sicht gerade recht verliefen. Das hat Tokio weiter verunsichert.

Seit dem 18. Februar, dem Tag der japanischen Parlamentswahlen, übt Washington offenen politischen Druck auf die japanische Regierung aus. Man wolle keinen Krieg, wohl aber einen Markt eröffnen, so die US-Handelsministerin Carla Hills großspurig. Bisher haben die USA völlige Verwirrung in Japan ausgelöst - und dabei einen Erfolg eingeheimst: Supercomputer aus den USA können nun auch nach Japan verkauft werden.

Und Premierminister Toshiki Kaifu ist gezwungen, eine ihm nicht zugedachte diplomatische Führungsrolle zu übernehmen. Das wollen seine Konkurrenten in der eigenen Partei nutzen, um ihn vorzeitig seines Throns zu entheben. Währenddessen läßt sich der im vergangenen Jahr zurückgetretene Premierminister und Fraktionschef Noburu Takeshita in Washington wie ein Regierungschef empfangen. Niemand weiß mehr, wer in der Regierungspartei das Sagen hat. Zu allem Überfluß beherrschen die Oppositionsparteien immer noch das Oberhaus und blockieren die Gesetzgebung. Neue Gesetze, die Washington einfordert, haben vorläufig keine Chance. Doch Japans Unverständnis mit der Welt geht über die USA hinaus.

Fünf Jahre Perestroika in der Sowjetunion und fünf Monate Revolution in Osteuropa haben Japan dem Erbfeind Rußland und dem alten Kontinent nicht nähergebracht. Im Gegenteil. Wie Nissan-Chef Ishihara im taz-Gespräch (siehe nebenstehende Seite) zugibt, verstehen japanische Politiker und Unternehmer von Europa heute weniger denn je. Hatte man sich in Japan während der vergangenen Jahre sorgfältig und mit viel Mühe auf die kalkulierbaren Bedingungen des neuen EG -Binnenmarktes ab 1992 einzustellen versucht, so werfen die unvorhersehbaren europäischen Ereignisse offenbar alle Planungen über den Haufen. Weil Japaner von den Kosten der deutschen Wiedervereinigung nichts verstehen, befürchten Tokioter Bankmanager, daß nun augenblicklich „eine DM-Ära auf die Yen-Ära folge“.

Sollte nicht alles umgekehrt verlaufen? Sollte Japan, die größte Kreditgebernation, nicht stärker und unabhängiger sein als jedes andere Land? Die wirtschaftliche Schwäche Nippons in der heutigen Situation hat der französische Ökonom Frederic Clairmonte in 'Le Monde diplomatique‘ beschrieben: „Das Paradox ist, daß die große Zerbrechlichkeit des verschuldeten Amerika die Verhandlungsposition Washingtons gegenüber Tokio stärkt.“ Zwischen 30 und 40 Prozent der US-Staatsschulden liegen heute in der Hand japanischer Investoren, zu viel, als daß die Abhängigkeit nicht beidseitig wäre. Hinzu kommt die lebenswichtige Bedeutung eines gesunden US-Marktes für den japanischen Export.

Das alles hindert die Japaner daran, dem Aktien- und Währungsverfall mit offensiven Maßnahmen, die die US -Wirtschaft augenblicklich schwächen würden, zu begegnen. Tokio ist ohnmächtig ob der eigenen Übermacht, die zwar weiter vorhanden, aber einstweilen nicht leicht zu orten ist. Der ständig steigende Nikkei-Index war auch die Propagandadroge, mit der dem Volk täglich der Glaube an den nationalen Erfolg eingeimpft wurde. Nun aber stehen Millionen kleiner und mittlerer Investoren im Trockenen. Welchen Einfluß, welche Macht hat das Land noch?

Die JapanerInnen jedenfalls wissen es nicht mehr. Eine gestern veröffentlichte Umfrage von 'Nihon Keizai‘ ergab, daß 39,5 Prozent der Befragten die US-Forderungen gegenüber Japan im Zuge der Handelsgespräche ablehnen, 47,5 Prozent der Befragten dagegen befürworten sie. Selten zeigt sich unter den Japanern ein so geteiltes Meinungsbild. Zu schnell ist der Reichtum gewachsen, zu fern liegt noch die übrige Welt, als daß man im ernstlichen Streit unter nun Gleichberechtigten bereits volle Souveränität und Selbstsicherheit zeigen könnte. Dann fällt der Nikkei eben.

Georg Blume