Sexueller Mißbrauch - Rütteln an einem Tabuthema

■ Sexueller Mißbrauch an Kindern in der Familie wurde in der DDR bisher totgeschwiegen / Fachleute gehen jetzt den ersten Schritt in die Öffentlichkeit / Die Signale der Kinder müssen...

„Wenn ich auf die letzten Jahre zurückblicke, fallen mir spontan mindestens 20 Kinder ein, bei denen ich jetzt sagen würde, dieses Kind wurde sexuell mißbraucht.“

Die Erfahrungen dieser Berliner Kinderärztin konnten viele der Psychologinnen und Pädagoginnen bestätigen, die sich im Bezirksamt Charlottenburg trafen, um mit ihren West-Berliner Kolleginnen über das Thema „Sexueller Mißbrauch an Kindern“ zu reden.

„Als ich vor kurzem zum ersten Mal mit dem Problem konfrontiert wurde, fiel es mir wie Schuppen von den Augen“, berichtet eine Psychologin der Kinderneuropsychiatrie. „Plötzlich konnte ich die Anzeichen einordnen. Bei zwei Kindern, die ich betreue, ist es eindeutig, bei vier weiteren habe ich den starken Verdacht, daß sexueller Mißbrauch vorliegt.“

Eine andere Psychologin bestätigt diese Erfahrungen aus der Arbeit mit erwachsenen Frauen: „Wenn das Schweigen erst einmal gebrochen ist, erinnern sich viele Frauen an Mißbrauchserlebnisse aus ihrer Kindheit.“

In der BRD und West-Berlin werden nach neueren Schätzungen jährlich 300.000 Kinder, davon über 90% Mädchen, sexuell mißbraucht. Das ist etwa jedes 4. Mädchen und jeder 20. Junge. Die Täter kommen aus dem engen Familienkreis, in mindestens einem Drittel der Fälle ists es der Vater des Kindes. Sexueller Mißbrauch ist kein einmaliges Vergehen oft werden Kinder über Jahre hinweg mißbraucht, vom Säuglings- oder Kleinkindalter an.

„Wir haben lange geglaubt, daß in unserer Gesellschaft, in der es ja nur Wunschkinder geben sollte, sexueller Mißbrauch in einem solchen Ausmaß nicht möglich ist“, versucht sich eine Berliner Ärztin das lange Schweigen zu erklären.

Ein Kongreß in West-Berlin hatte ihr vor einem Monat „die Augen geöffnet“ - darüber, daß sexuelle Gewalt an Kindern weltweit zum Alltag vieler Familien gehört, unabhängig von der Gesellschaftsform. Und ebenso unabhängig von der sozialen Schicht: Mißbraucher gibt es in Arbeiter-, Akademiker- oder Politikerfamilien.

Für viele - Fachleute wie „Laien“ - ist es der schwierigste Schritt, sexuellen Mißbrauch in seinem ganzen Ausmaß zu sehen und dabei nicht an den bösen Mann auf dem Spielplatz zu denken, sondern an den Vater, Großvater, Onkel oder Nachbarn, an Personen, die das Kind kennt, denen es vertraut und die oft von ihm geliebt werden.

Fremdtäter - auch das ist eine international gültige Zahl machen nur etwa 5% aller Mißbraucher aus.

Sexueller Mißbrauch bedeutet nicht unbedingt erzwungener Geschlechtsverkehr, sondern umfaßt nach der Definition zweier Fachfrauen „jede sexuelle Handlung eines Erwachsenen an einem Kind unter Ausnutzung seiner Macht und/oder Autoritätsstellung, wobei das Kind aufgrund seiner emotio

nalen und kognitiven Entwicklung nicht in der Lage ist, frei und überlegt zuzustimmen“.

Die Folgen sexuellen Mißbrauchs begleiten die Kinder oft ihr Leben lang. Um ihre Erlebnisse zu bewältigen, entwickeln sie unterschiedliche Überlebensstrategien. Sie sind suchtgefährdet, haben oft kein „normales“ Verhältnis zur Sexualität, zeigen Aggressionen und ihr Vertrauen zu anderen Menschen ist tief verletzt. Die Erlebnisse aus der Kindheit werden häufig verdrängt, die Erinnerung an den sexuellen Mißbrauch wird oft erst nach Jahren wieder wach.

In West-Berlin fanden sich Anfang der 80er Jahre Frauen in Selbsthilfegruppen zusammen, um über den erlebten Mißbrauch zu sprechen und auch in der Öffentlichkeit das Tabu über sexuelle Gewalt in der Familie zu brechen.

Doch die Widerstände, das Problem in seinem Ausmaß zu erkennen und vor allem die Täter beim Namen zu nennen, sind hartnäckig. Schließlich geht es um die Familie, die „Keimzelle des Staates„; welche Konsequenzen hätte es, sich einzugestehen, daß es in vielen dieser Familien Männer gibt, die ihre Töchter und gelegentlich auch ihre Söhne mißbrauchen, um ihre sexuellen Bedürfnisse auszuleben.

„Wer das Problem nicht sehen will, sieht es nicht. Es gibt kleine Nester und aktive Frauen, die das Problem öffentlich machen. Das Angebot an Beratungsstellen oder Therapiemöglichkeiten in der BRD und West-Berlin ist keineswegs flächendeckend.“ Die West-Berliner Arbeitsgemeinschaft „Wildwasser“, in der Wiltrud Schenk arbeitet, wurde 1982 von betroffenen Frauen initiiert, ein Jahr später entstand neben dem Selbsthilfe-Projekt die erste Beratungsstelle für sexuell mißbrauchte Mädchen und Frauen. Sie wollen „Mut machen, sich mit dem Thema zu beschäftigen, denn es gibt überall Frauen, die betroffen sind.“ Die „Wildwasser„-Frauen sind parteilich: sie arbeiten nur mit Mädchen und Frauen. Es sei zwar notwendig, die Täter mit den Verletzungen der Kinder zu konfrontieren, diese Aufgabe müßte jedoch von Männern übernommen werden.

Wiltrud Schenk betont, daß der Zugang zu sexuellem Mißbrauch nur über die persönliche Auseinandersetzung jeder und jedes Einzelnen gelingen kann und daß dabei auch Gedanken an einen eigenen Mißbrauch zugelassen werden müssen.

Für die Psychologinnen, Pädagoginnen und Ärztinnen, die sich zum Austausch mit ihren West-Berliner Kolleginnen getroffen haben, ist zunächst die „fachliche“ Betroffenheit der Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit dem Problem. Eine Psychologin der Kinderneuropsychiatrie drückt die Ratlosigkeit vieler aus: „Wir sehen die Anzeichen, können sie jetzt mit sexuellem Mißbrauch in Verbindung bringen und stehen vor der Frage: Wie kann ich es beweisen und wie

soll ich weiter vorgehen?“

Patentrezepte dafür gibt es nicht, doch der Ausgangspunkt aller Überlegungen muß sein: Wie kann ich das Kind vor weiterem sexuellem Mißbrauch schützen?

Die Mutter spielt eine Schlüsselrolle: kann sie die Tatsache annehmen, daß ihr Kind mißbraucht wird, oder stellt sie sich schützend vor den Täter? Wenn sie bereit ist, sich vom Mißbraucher zu trennen, kann nach einer gemeinsamen Lösung für Mutter und Kind gesucht werden; wenn nicht, ist eine Fremdunterbringung des Kindes oft die einzige Lösung.

Und was geschieht mit dem Täter? Während „Wildwasser“ nicht mit Tätern arbeitet, vertritt der West-Berliner Verein „Kind im Zentrum“ einen familienzentrierten Ansatz und versucht, die Täter in eine Therapie miteinzubeziehen. Die Arbeit mit dem Täter scheitert jedoch oft daran, daß viele die Tat hartnäckig leugnen.

Auch wenn es für Ärzte eine Anzeigepflicht gibt, wenn sie Anzeichen von sexuellem Mißbrauch entdecken, stellt sich nach den Erfahrungen in der BRD - die Frage, ob manchen Kindern durch einen Prozeß nicht noch mehr Schaden zugefügt wird.

Was sich in anderen Ländern seit einigen Jahren trotz vieler Widerstände allmählich entwickelt, beginnt nun auch in der DDR: die Öffentlichkeit für das Ausmaß und die Alltäglichkeit des sexuellen Mißbrauchs in der Familie zu sensibilisieren; zusammentragen, welche Möglichkeiten für Beratung und Therapie vorhanden sind; nach Partnern in Institutionen und Ämtern suchen; in Schulen und Kindergärten die präventive Arbeit anregen.

Erste Kontakte - so überlegen zwei der anwesenden Psychologinnen - könnten über das „Telefon des Vertrauens“ vermittelt werden, und zwar sowohl für die Fachkräfte in der Kinderarbeit als auch für Frauen, die sich mit anderen betroffenen Frauen in Selbsthilfe-Gruppen austauschen möchten.

Die Ausgangsbedingungen für eine breite Auseinandersetzung auf „fachlicher“ Ebene sind nicht die schlechtesten: alle Kinder in der DDR haben von Geburt an regelmäßig mit Fürsorgerinnen, Erzieherinnen oder KinderärztInnen zu tun, sind also zugänglich für professionelle Helfer. Diese müssen lernen, die Signale der Kinder zu verstehen und einzuordnen, müssen vor allem bereit sein, die Möglichkeit eines sexuellen Mißbrauchs in Betracht zu ziehen. Sie müssen auch Verdachtmomente äußern können, sich austauschen und in ihrer Einschätzung sicher werden. Der Verdacht auf sexuellen Mißbrauch fügt sich oft aus kleinen, für sich genommen nicht „alarmierenden“ Anzeichen zusammen, die registriert und eingeordnet werden müssen.

Es ist oft schwierig und langwierig, das Schweigen der Kinder zu durchbrechen. Viele können nicht

verbal ausdrücken, was sie belastet. Für sie gibt es Spielmaterial, wie z.B. anatomisch ausgebildete Puppen, mit denen die Erlebnisse in der Familie nachgespielt werden können.

Vor allem aber muß den Kindern geglaubt werden, wenn sie sich äußern. Denn - das ist eine Erfahrung, die die KollegInnen in anderen Ländern immer wieder machen - ein Kind, das von sexuellem Mißbrauch erzählt, lügt praktisch nie.

Die Anlaufstellen in West-Berlin sind völlig überlastet. Das zeigt zum einen, wie häufig sexueller Mißbrauch vorkommt und wie groß das Bedürfnis nach Beratung ist. Die steigende Melderate bedeutet aber auch, daß sexueller Mißbrauch in der Familie nicht mehr in dem Maß verheimlicht und verschwiegen wird wie noch vor einigen Jahren.

Auch die präventive Arbeit wird weiterentwickelt. Ein wichtiger Schritt ist es, den Kindern zu helfen, ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung zu vertreten, ihre Gefühle ernst zu nehmen und mit ihnen darüber zu sprechen, welche Berührungen und Zärtlichkeiten schön und angenehm sind und welche nicht. Denn der beste Schutz vor sexuellem Mißbrauch sind Kinder, die gelernt haben, NEIN zu sagen.