UNMITTELBAR ZU ARTAUD

■ Auf Kriechstudienreise mit dem runden Tisch der „Irrenmusik“ im Rahmen von „Musika“

Erkennbare Irre waren nicht da. Vorsichtshalber holte man sich irgendwoher Legitimation: „Ich kenne nur 1 Schizophrenen, der singt nur 1 Lied und sagt nur 1 Satz“ oder „Ich habe übrigens selber eine Freundin von mir einliefern müssen“ oder „Manisches gehört jeder guten Kunst an“ usw. Man tat sich eben schwer. Eingeladen hatte am Montag abend das Kunstamt Schöneberg und der Verein „Freunde guter Musik“ zu einem Rundgespräch „Irrenmusik“ im Rahmen der Ausstellung musikbezogener Werke Geisteskranker. Gekommen waren vor allem die, die ebendiese Werke tags zuvor in zwei Konzerten interpretiert und aufgeführt hatten.

Das Musiko- und Psychologenlaierlei offenbarte sich dabei als theoretische Nachbereitung eines Praxisselbsterfahrungskurses „Irrenmusik“. Die Leitung hatte Kunstämtin Katharina Kaiser („Wie haben die beteiligten Musiker diese Musik beim Spielen erfahren?“, d.h. sind sie in höhere Kawasaki-Zustände abgefahren oder haben sie sich tierisch über die scheiß unsauberen Notierungen geärgert und sind beim Konzert mit ihrem letzten Avantgardesonett fremdgegangen?). Gutlinks zog man den Irren bis auf die kranke Haut aus und schamhaft einen dicken kreativen Überzieher drauf. Denn: Man darf ja heute als Irrer nicht mehr für sich psychotisch sein, man ist ja ein anthropologisches Phänomen, nah beim ursprünglichen Ausdrücken holla! der pickligen Seele, und ist sozusagen moralisch verpflichtet, dem entnervten Environment mit Anstand seine archaische Inspiration zurückzugeben mindestens. Dafür setzen sich auch gegenaufgeklärte junge Foucaulttextspender für ein uniweites Vertriebsnetz mit bescheinigter Grenzüberschreitung ein, und diese gesellschaftliche Mehrheit rechnet sich ja schließlich dann auch für die Irren. Also.

Zuerst aber sprach einer, der für die Seite der provokanten Thesen aufgestellt worden war: Ferenc Jadi, Psychiater, Künstler und Irrenmusikvolkszähler aus Ungarn. Jadi stellte erst mal fest, daß alle außer ihm die Irrenkunst aus einem igittigitten bürgerlichen Musikmiesverständnis heraus bisher falsch beurteilt haben. Der Irre macht nun mal seine eigenen Tempi, Melodien, Anfangs- und Schlußsätze, ob er will oder nicht. Gewöhnlich bevorzugt sein Zustand „wilde unlogische Klänge und Rhythmen“, „komplexe kurze Abläufe“ und „nervtötende Wiederholungen“. Zuweilen hört er auch seine „Gehirnsteine knirschen“ oder den „Wendungen der Sprachmasse“ zu. Wolle man musikalische Werke von Psychotikern aufführen, so sei die Versuchung groß, das Verrückte zu imitieren als Bizzares und nichtskönnerisch gar in den Jazz zu sektieren („Ich glaube nicht, daß Jazz viel mit Musik zu tun hat, jedenfalls nicht mit psychotischer“ was für Jadi das gleiche ist). Die Psychose könne einen aber als Realität auch hineinholen, wenn man zu tief hineingetreten ist. Wichtig seien wie für jeden Komponisten so auch für den Psychotiker die Pausen, ein „Hineinschreiben in die Stille“. Mehr wolle er jetzt nicht sagen, weil es auch in der Musik seiner Meinung nach nichts Langes gibt.

Später sagte er doch noch mehr, gab gar genaue Spielanweisungen. Ausgehend von einer Aufführung in Ungarn und von Gesprächen mit Psychotikern ist sich Jadi sicher, daß mit der Notierung einer Tonhöhe auch eine Obertonstruktur mitgedacht ist, die durch heterogene Instrumentalisierung dem Werk entlockt werden muß. So war damals die Choralmelodie der schizophrenen Nonne A.K., die sie direkt von Christus in die notenkopfmalende Hand diktiert bekommen hatte, auf verschieden(en) verstimmten Instrumenten vorgeführt worden, und das sollte man mit aller Musik zwecks Fortschritt tun, beziehungsweise Musikalisches am besten gleich jenseits des Musikalischen darstellen. Über diese These hätte man allerdings lange schweigen respektive musizieren können.

Aber es ärgerten sich die beteiligten professionellen Erfahrungskünstler, die am Sonntag musiziert hatten, über die heimliche Schelte ihrer Leistungen. Wie ernst muß man den Künstlerirren nehmen, wenn er die Noten hier und da verrückt, oder beleidigt man den Irrenkünstler durch ein Runterfiedeln ohne Einfühlung in wahrhaftig gemeinte Eigentlichkeit? Darf man als Interpret seine eigene Künstlerpersönlichkeit mit hineinklimpern, ja, muß man das geradezu, weil sie eh nicht von einem abfällt, oder muß man sich im Gegenteil zum nackten Medium entäußern, tagelang in den Schaukasten zu den historischen Blättern kriechen, um dann „ganz nah bei Else Blankenburg und ganz nah bei sich selber zu sein“ (Prinzhorn-Kustodin Inge Jadi)? Sven-Ake Johannson, J.K.-, J.V.- und J.S.- Interpret, weigerte sich, die Kompositionen in Richtung „Versetztheit“ abzubiegen und verschwand. Man widersprach noch eine Weile seinem leeren Platz.

Foucault wurde hier, Artaud wurde da zum autistisch -authentischen Zeitzeugen angerufen (war aber offenbar verhindert). Aber bei einem, so Ulrich Krieger vom BICE -Ensemble, sind wir uns doch alle einig, der Geniekult, die Mythologie des genialischen Künstlers im 19. Jahrhundert hat für uns ausgedient! Aber ganz und gar nicht, widersprach Aktionskomponist Manos Tsangaris, genialische Künstlerpersönlichkeiten hat es ge- und wird es immer geben. Ach so, achsote der andere, das bestreite ich nicht.

Nun war aber noch immer nicht geklärt, wann und wie die absichtlich in einen Kunstrahmen hineingestellten psychotischen Kunstwerke auch für die breiten Volksmusikmassen samt Vorhutfreunden guter Musik fruchtbar werden könnten. Von den hinteren Reihen winkte ein Psychiater kritisch zum anthropologisch-archaischen Sockel hinauf und versuchte die Kulturschwärmer zur Wahrnehmung von Not, Zerfall und Ordnungszwängen ihrer Liebhaberobjekte zurückzuführen - ohne Erfolg. Nicht notiert werden konnte auch, ob nun die Musikkonvention den Irren ihr befruchtendes Irregehen erst ermöglicht, oder ob im Gegenteil die Konvention zur Abirrung zwingt. Bei der kurzen Laienbefragung im Außenkreis gingen die Theorieschübe in andere Richtungen: Man sei vom Höreindruck des Konzers „erst entsetzt gewesen“, habe sich „dann aber hineingefunden“, was vielleicht daran läge, daß man solcherart Unerhörtes nicht gewohnt sei, wie etwa das Vogelzwitschern in der Großstadt, was die Nachbarin verrückt mache. Eine andere Frau wünschte sich Auseinandersetzungen mit lebenden Psychotikern statt mit toten, von Stellvertretern vertonten Blättern. Und eine dritte ärgerte sich über die fachidiotische Diskussion, die nur ein Teil einer kulturellen Übereinkunft sei, in der bestimmte Resonanzböden erst gar nicht entstünden. Die meisten Leute seien, was Noten betrifft, Kaspar Hausers. Wie aber, fragte sie, kann einer, wenn er „über die Grenze will“, dann überhaupt noch sich Ausdruck verschaffen? Und sprach vom „geistigen Autobahnbau“ des Abends.

Inge Jadi, die verständige Psychologin, hatte ihr, wie sie sagte, „so aufmerksam“ zugehört, daß sie gar nichts verstanden hatte. Dann sagte jemand noch etwas, was nachträglich zum Schlußwort erklärt wurde, so daß es Gutermusikfreund Matthias Osterwold nacheilend verfehlte: „Ich finde, wir sollten ein Schlußwort verbreiten.“ Um ein Haar hätte man übrigens auch noch das Thema verpaßt, als jemand über den Anteil der Psychose an der psychotischen Kunst reden wollte. Inge Jadi paßte auf, zum Glück: „Das war heute nicht unser Thema.“

Dorothee Hackenberg