Erhöhung des Gegenstands

■ Wim Wenders‘ Film über den japanischen Modeschöpfer Yohji Yamamoto „Aufzeichnungen zu Kleidern und Städten“

Thierry Chervel

Der Himmel über Berlin war auch darum ein so berlinerischer Film, weil die Liebe zwischen dem Engel Daniel und der Trapezkünstlerin Marion nicht in einer erotischen Szene - gar einer Bettszene - kulminierte, sondern in einem nächtlichen Kneipengespräch. Marion und Daniel saßen am Tresen einer Hotelbar und führten tiefschürfende, von Peter Handke gleichsam mit Bleistift auf Bütten notierte Beziehungsdiskussionen. Aber das Licht war in einer Weise indirekt, daß Marions rotes Kleid von innenheraus zu leuchten schien. Das Kleid war von Yamamoto und die Szene ganz und gar charakteristisch für Wim Wenders.

Er muß erst drumherum reden. Gerade deshalb sind seine Bilder oft so schön und frisch. Er muß problematisieren, die Probleme mitteilen, gegen eine Art Bilderverbot anarbeiten, bis er dann zu den Bildern kommt, die ihm gerade noch verantwortbar scheinen und sich präsentieren wie eine kostbare und letzte Essenz.

Auch in Aufzeichnungen zu Kleidern und Städten wird viel geredet, bis etwas zu sehen ist. Wenders hält zunächst eine Vorrede aus dem Off über Film, Video und Mode, und erzählt, wie er den Auftrag des Centre Pompidou bekommen habe, den er zunächst habe ablehnen wollen - „Bleibt mir bloß mit der Mode vom Hals!“ -, daß er aber immer schon Yamamoto habe kennenlernen wollen, in dessen Hemden er sich als „er selbst“ wiedererkenne, was ihn bewogen habe, den Film schließlich doch zu drehen. Zu sehen sind dazu Bilder von Tokyoter und Pariser Straßen zugleich: eine irritierende Konstruktion. Die Kamera ist im Fond eines Wagens montiert, der durch Tokyo fährt. Die Straßen sieht man durch die Windschutzscheibe. Unter der Windschutzscheibe aber ist ein Videoschirm installiert, der Pariser Straßen zeigt. Das Vehikel könnte von Virilio entworfen sein.

Dann wird Yamamoto interviewt, auf einem Balkon des Centre Pompidou, ein kleiner schüchterner Mann mit Bart und nicht ganz kurzen Haaren, die ihm in die Stirn wehen. Er äußert sich auf japanisch über Tokyo und Paris, seine Liebe zur Anonymität der großen Städte.

Danach erst - 15 Minuten mögen vergangen sein - sieht man Yamamoto bei der Arbeit in seinem Tokyoter Atelier, einem hellen und nüchternen Raum. Die europäische Damenkollektion wird vorbereitet. In der Mitte des Raums steht gerade, stolz und geduldig, eine Europäerin, Mannequin, 1,80 m. Yamamoto und seine Assistentinnen sind wesentlich kleiner. Das Mannequin trägt den unfertigen Entwurf eines Kleides aus farblosem Stoff - später wird es schwarz sein, wie fast alles bei Yamamoto. Yamamoto und seine Assistentinnen befingern sachte den Entwurf, versuchen die genaue Position künftiger Nähte, Durchblicke und Öffnungen zu ermitteln. Danach kauert sich Yamamoto wieder in seinen Sessel, der in ein paar Metern Entfernung steht und begutachtet seine Arbeit. Yamamoto ist ein Mann, der aufschaut, nicht nur weil er klein ist, denn in allen Gesten und Körperhaltungen, die er wählt, betont er es noch. Halbtotale und Untersicht, Yamamoto bevorzugt die Distanz des Respekts und der Huldigung, die das Objekt seiner Anschauung erhöht und in der er sich selbst zurücknimmt. Er scheint ein ähnliches Verhältnis zu den Dingen und Leuten - und hier besonders zu den Frauen - zu pflegen wie Ozu, denkt man.

Da verkündet Wenders, der die ganze Zeit über Bilder gesprochen hat, aus dem Off, er habe sich vor allem für Yamamotos Verhältnis zu den Frauen interessiert. Prompt wird geschnitten, und man sieht Yamamoto allein hinter seinem Schreibtisch. Er redet jetzt gar nicht über sein „Verhältnis zu den Frauen“, wie man in der Enttäuschung über den Verlust des schönen Bildes erwartet, sondern über die unterschiedlichen Proportionen der Japanerinnen und der Europäerinnen, die ihn bewegt haben, unterschiedliche Kollektionen für sie anzufertigen, und dann noch abstrakter über Form und Material in Kleidern. Aber das ist wie gesagt charakteristisch für Wenders, diese Tendenz, dem Gegenstand durch Bereden auszuweichen. Irgendwie bekommt man trotzdem immer alles zu sehen, was man sich wünscht, mehr als bei den meisten anderen Regisseuren, man muß nur Text und Bilder voneinander lösen und seine eigenen Beziehungen herstellen. Auch sind die Reden ja immer grundehrlich, tief und wahr.

Es gibt in dem Film ein paar Einstellungen von anrührender Peinlichkeit. Sie sind in einem Tokyoter Billardsalon gedreht. Yamamoto und Wenders spielen ein Partie und treiben dabei angelegentliche Konversation. Die Situation ist natürlich gestellt, beide wirken unterm Blick der Filmkamera, die in ein paar Metern Entfernung etwas erhöht steht, steif und beklommen. Einmal will Wenders eine Frage stellen und geht auf Yamamoto zu. Es ist als ein freundliches Hinzutreten gemeint, aber es kann nicht anders als drohend wirken, denn Wenders ist soviel größer und stämmiger gebaut als Yamamoto, der zum Aufschauen jetzt den Kopf in den Nacken legen muß.

Hier mag der Grund dafür liegen, daß Wenders in dem Film soviel Video benutzt. Wenders selbst erzählt etwas über die angebliche Affinität der Instantbilder zur flüchtigen Welt der Mode. Die Filmkamera sei dagegen schwerfällig und in ihrer Schwere aufdringlich und unfähig, die Flüchtigkeit zu fassen. Das Argument leuchtet nicht ganz ein. Wenders weiß sehr gut und schätzt gerade, daß Yamamotos Kleider Gültigkeit über den Augenblick hinaus beanspruchen. Den ganzen Aufwand und Luxus der Verarbeitung betreibt Yamamoto, um seinen Stücken Dauer zu geben: Sie sollen alt aussehen. Seine Sehnsucht ist die Arbeitskleidung vergangener Jahrzehnte, die Kleidung, die nicht Mode ist, der Wintermantel, der schön ist, weil er wärmt und zum Überleben dient. Seine Modelle findet er in Fotografien August Sanders oder Cartier-Bressons, in deren Betrachtung er, wie Wenders zeigt, versinken kann.

Yamamotos Kleider sind alt und neu zugleich, Wenders sagt es selbst. Käme es hier nicht gerade darauf an, technische Details zu sehen? Nur die Filmkamera könnte, wenn sie nahe genug heranginge und das Yamamoto-Hemd geduldig abtastete, diesen ergreifenden Widerspruch zwischen der Kostbarkeit des Materials und der Unauffälligkeit ihrer Erscheinung zeigen, die Weichheit und matte Oberfläche der Baumwolle, die Schattierungen des Schwarz, die Präzision und Solidität der Nähte, den Faltenwurf, die kleinen Unregelmäßigkeiten der Knöpfe aus Perlmutt, Schildpatt und Horn, die man als solche heute kaum mehr wahrnimmt, weil man an die Imitate aus Kunststoff gewöhnt ist.

Die unscharfe, farblich ungenaue Videokamera kann es nicht, und Wenders versucht es auch nicht, als hätte er Angst, sich an die Schönheit dieser Dinge - Dinge aus der Warenwelt -, zu verlieren und einen Werbefilm für Yamamoto zu drehen. Die Videokamera ist also ein Mittel der Distanzierung.

Zugleich aber hat Wenders mit seinem Argument nicht unrecht. Anders als das schwere Filmgerät ist die Vidokamera kein Störfaktor. Mit ihr kann sich der große und schwere Wenders viel weiter zurücknehmen und unauffälliger filmen, sie ist leichter handhabbar und weniger bedrohlich. So wird sie zum Mittel der Annäherung. Nur drückt sie weniger eine allgemeine Affinität zur Mode aus als Wenders‘ ganz persönliche Affinität zum Mann, der aufschaut.

Yamamoto ist die Verkörperung der Bescheidenheit und anerschaffener Zartheit, wenn er, nach einer stockend, leise und genau gegebenen Auskunft zum Frager - der selbst nicht im Bild ist - einen um Bestätigung nachsuchenden Blick emporsendet, wie um sicherzugehen, daß die Antwort seinen Kriterien entspricht. Stockend, leise und genau erzählt er so von seiner Mutter, die ihn ganz allein durchbrachte und ihr Geld als Schneiderin für die Damen der Umgebung verdiente, erläutert, daß ihm seitdem alle Damen in Stöckelschuhen vorkommen, als wären sie je schon älter als er und häßlich - er selbst macht nur flache Schuhe -, und berichtet vom Vater, der gegen seinen Willen in den Krieg ziehen mußte und fiel, von seinen Briefen aus der Gefangenschaft. Ihnen sei seine Arbeit gewidmet, in dieser Vergangenheit lebe er, an die Zukunft hingegen könne er nicht glauben. Alles soll schnell zuende gehen. Als Wenders ihn fragt, was er gern geworden wäre, wenn nicht Schneider, antwortet er „Hausmann“. Gern wäre er die Zierde im Heim einer tätigen Frau gewesen. In allem zeigt Yamamoto diese Neigung zum Verschwinden und zur Diskretion. Von seinen Kleidern möchte er, daß sie so selbstverständlich zur Person gehören wie Kleider in Zeiten, als man sich noch nicht alles kaufen konnte.

Hier wäre es nicht indiskret gewesen, nach den Preisen zu fragen - eine Hose für achthundert Mark kann sich ja auch heute noch nicht jeder kaufen. Yamamotos Neigung zum Verschwinden ist ja nicht einfach Naturell, sondern dessen vollkommene Stilisierung, wie die Kleider zeigen. Aber von denen ist nicht viel zu sehen, es sei denn, man betrachtet die Kleider, die Yamamoto und seine Assistentinnen selbst anhaben, Yamamotos weißes Hemd zum Beispiel.

Manchmal fragt man sich, ob nicht Yamamoto in aller Bescheidenheit nicht der eigentliche Regisseur des Films ist, ob nicht eine Art hypnotischer Kraft in dieser Selbstzurücknahme steckt und Wenders letztlich doch einen Werbefilm für Yamamoto gedreht hat. Aber Wenders befragt Yamamoto eben nicht als Chef und Inhabe einer effizient arbeitenden Firma. Er hat sich entschieden, von Autor zu Autor zu reden.

Er hat recht damit. Warum sollte ein weißes Hemd von Yamamoto weniger bedeutsam sein als - sagen wir - eine von Carlo Scarpa eingerichtete Sparkassenhalle oder ein Film von Wenders - darin wohnt die gleiche Achtung vor den Dingen.

„Aufzeichnungen zu Kleidern und Städten“ von Wim Wenders, mit Yohji Yamamoto, Frankreich/BRD 1989, 79 Min.