Gericht: Tiefflugprotest ist Notwehr

Stuttgarter Amtsgericht billigt Fesselballonprotest von Tieffluggegnern  ■  Von Vera Gaserow

Berlin (taz) - „Tiefflüge mit ihren Lärmbelästigungen stellen sich als absolute Gesundheitsgefahr und massive Beeinträchtigung dar und beinhalten auch gravierende ökologische Gefahren und Bedrohungen. Dies kann (...) keinem vernünftigen Zweifel unterliegen. Tiefflugangriffe sind und waren auch rechtswidrig.“ - Deftige Kritik am Bonner Tiefflugwahn, die aus der Feder einer der vielen Anti -Tiefflug-Initiativen stammen könnte. Doch die harschen Sätze stehen in einem jetzt schriftlich vorliegenden Urteil des Stuttgarter Amtsgerichts.

Im vergangenen Dezember hatte der Stuttgarter Amtsrichter Wolf drei Tieffluggegner aus dem baden-württembergischen Kirchberg in einem Bußgeldverfahren freigesprochen. 200 D -Mark Buße hatten die drei Angeklagten zahlen sollen, weil sie im November 1988 mit gut einem Meter großen Fesselballons gegen die Militärjets zu Felde gezogen waren. Die Ballons sollten die Piloten daran hindern, in weniger als 300 Metern Höhe über das dichtbesiedelte Gebiet hinwegzudonnern. Der Aufstieg von Fesselballons, wie sie die Tieffluggegner benutzten, sei jedoch genehmigungspflichtig, hatten die Behörden damals ihre Bußgeldforderung begründet und dafür auch gleich eine Vorschrift gezückt, den Paragraphen 16 Abs.2 der Luftverkehrsordnung. Eine solche Genehmigung hatten die drei Ballondemonstranten nicht eingeholt und hätten sie - so gab die Behörde unumwunden zu

-für ihre Protestzwecke auch nie gekriegt.

Das Stuttgarter Amtsgericht sieht das ganz anders: Hätten die drei Angeklagten erst eine Erlaubnis für das Steigenlassen der Ballons einholen müssen, wäre das einem Verzicht auf ihre Demonstration gleichgekommen. Die Ballons auch ohne Erlaubnis aufsteigen zu lassen, sei keinweswegs rechtswidrig, urteilt Amtsrichter Wolf, sondern vielmehr eine Protestaktion, die „durch Notwehr oder unter dem Gesichtspunkt des rechtfertigenden Notstandes gerechtfertigt war“. Weiter heißt es in dem Urteil: „Die sich seit Jahren wiederholenden Tiefflüge stellen sich als eingetretene und drohende Verletzung rechtlich geschützter Interessen der Betroffenen durch einen anderen Menschen dar.“ Tiefflüge, so fährt der Richterspruch fort, führen erwiesenermaßen zu „körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen, die man nicht hinzunehmen braucht, schon gar nicht, wenn diese Übel vom Staat seinen Bürgern selbst zugefügt werden und er es nicht nur unterläßt, diese gegen solche Nachteile und Schadenszufügungen durch geeignete Maßnahmen zu schützen.“ Tiefflüge unter 300 Metern seien nicht nur rechtswidrig, sondern gingen über die Beeinträchtigungen hinaus, die durch den begründeten Gemeingebrauch am Luftraum hervorgerufen werden, und bei solchen „unbefugten Überschreitungen“, so fügt das Stuttgarter Gericht hinzu, stehen den Betroffenen „die vollen von der Rechtsordnung zur Verfügung gestellten Abwehrrechte offen“.

(AZ 33 OWi 10369/88)