Litauen - schlägt das Imperium zurück?

■ Die Schwelle für die Anwendung militärischer Gewalt durch die Sowjetarmee wird immer niedriger

Ist die gegenwärtig zugespitzte Situation in Litauen mit jenen Tagen und Nächten vergleichbar, die dem 21.August 1968 in Prag vorausgingen? Während damals die sowjetische Propagandamaschine immer penetranter verkündete, die Konterrevolution in der CSSR sei nicht Sache der Tschechen und Slowaken allein, heißt es heute unisono bei Schewardnadse, Gerassimow und dem Verteidigungsminister Jasow, man werde keinesfalls Gewalt anwenden. Litauen habe das Recht auf Unabhängigkeit, es müsse sich nur an die noch nicht existierenden Austrittsprozeduren halten. Gerade dies zu tun, ist für die litauische Unabhängigkeitsbewegung aber unmöglich. Denn damit wäre das Einverständnis verbunden, daß Litauen 1940 auf rechtsverbindliche Weise Mitglied der Union geworden sei.

Es geht nicht um einen abstrakten Prinzipienstreit, sondern höchst praktisch um die Frage, von welcher Grundlage aus die Rechte und Verbindlichkeiten zwischen der UdSSR und Litauen festgelegt werden sollen. Es geht - unter anderem - auch ums Geld. Vor allem aber geht es den Litauern um jene Identität als Volk und Staat, die für sie mit der sowjetischen Okkupation unterbrochen wurde. Unterbrochen durch Deportationen, Enteignungen und Verwüstungen, von denen fast jede litauische Familie betroffen ist.

Die militärischen Aktionen der letzten Tage kann man nicht einfach als Bedrohungsszenario interpretieren, hinter dem möglichst günstige Verhandlungspositionen aufgebaut werden. Die Behauptung, in Litauen würden bewaffnete Streitkräfte gegen die Sowjetunion aufgestellt, Sowjetsoldaten tätlich angegriffen, den russischen Menschen das Leben im Lande unmöglich gemacht, enthält alle „klassischen“ Elemente, die militärische Gewaltanwendung rechtfertigen sollen. In dieses Schema gehört auch die Demonstration der 5.000 meist russischstämmigen Kommunisten in Vilnius vom Dienstag.

Es ist schwer zu glauben, die Rote Armee hätte lediglich den Wünschen der prosowjetischen kommunistischen Minderheitengruppe nachgegeben, als sie die Parteihäuser in Vilnius und Klaipeda besetzte. Auch die Klage der Loyalisten, sie wollten nicht unter einem kapitalistischen Regime in Litauen leben, ist nichts als vorweggenommenes Rechtfertigungsmaterial. Mag sein, daß manche Maßnahmen der litauischen Regierung, wie die Errichtung von Zollhäuschen, lächerlich operettenhaft anmuten und andere, wie die Unterstützung der Fluchtbewegung aus der sowjetischen Armee, unklug sind. Sie entsprechen aber auf alle Fälle den Bedürfnissen der litauischen Bevölkerung. Stil und Methode des sowjetischen Vorgehens zeigt den Litauern, daß die Tage der imperialen Politik noch keineswegs gezählt sind.

Christian Semler