Anna - eine Geschichte, die das Leben nicht schreibt

■ „Anna“ - BRD-Spielfilm von 1988 / Probleme zwischen Behinderten und Gesunden

Schon zu Weihnachten '88 hatte Frank Strecker mit seiner Fernsehserie „Anna“ kräftig auf die Gefühlsdrüsen der damals schon fernsehvereinigten deutschen Nation gedrückt. Und weil das Konzept so gut aufging, schneiderte man gleich noch einen Kinofilm daraus. Diese Fassung der „anrührenden Geschichte von der kleinen Tänzerin und ihrem behinderten Freund“ können dank Progress nun auch die Brüder und Schwestern im Osten erleben.

Die Story ist furchtbar simpel: Die hübsche und gar allerliebst tanzende Anna hält zu ihrem Andreas, obwohl der Rollstuhlfahrer ist. Dabei könnte sie doch tausend andere haben. Ihr Ballerino David zum Beispiel ist unsterblich in sie verknallt. Hin und her gerissen, wehrt sie sich heldenmütig, doch eines Tages glaubt Andy ihr nicht mehr.

Da winkt aus New York das große Engagement. Doch die eiserne Lady, die ihre und Davids Lehrerin ist, sucht zum entscheidenden Vortänzeln einen anderen Partner aus. Verzweifelt stürzt David sich vom Seilboden auf die Bühne und zu Tode!

Nie wieder will Anna tanzen.

Doch da ist ja noch ihr Andreas! Zu dem schreitet sie jetzt, läßt das Rollo herunter, die Hüllen fallen und sich selbst zu ihm ins Bett sinken. Danach ist sie wieder guter Dinge, fliegt nach New York und wird der große Star ...

Die gewaltigen Einschaltquoten kommen also nicht von ungefähr. Der Film ist für seine Zielgruppe maßgeschneidert und rechnet fest mit deren Psyche. Den kleinen Mädchen im Kino und den Bürgersleuten vorm Fernseher wird reichlich Möglichkeit zum Bewundern geboten, sei's nun, weil man nie so tanzen wird, einfach nie nach New York kommt oder weil halt alles so schön bunt ist. In der Gegenüberstellung der quirligen Anna (Sylvia Seidel) und ihrer strengen Umwelt („Keine Gefühle, Anna!“) kann man Sympathien von Anfang an klar verteilen. Davids Unglück darf als dramatisches Element selbstverständlich nicht fehlen. Für den leisen Schauder, nach welchem die Hauptfigur sich wie Phönix aus der seelischen Asche erheben kann.

Fragt sich, was Strecker eigentlich gemacht hätte, stünde ihm nicht der Müllberg von 50 Jahren Hollywood zur Verfügung. Die Typen sind samt Gestik und Accessoires geklaut. Die Dialoge, wenn sie nicht gerade poppig wirken sollen, strotzen von uralten Phrasen: Am schönsten ist das bei Madame d'Arbanville, einer Ballettlehrerin, härter als Maggie Thatcher und manieriert wie eine Hofdame, wenn sie getragen spricht: „Anna ist ein roher Diamant, wenn ich ihn schleife, könnte er bald in New York funkeln.“ Und herzergreifend wird's dann bei Davids Entsagung: „Es geht um Dich, Anna, ich bin jetzt nicht so wichtig!“

Dem Kameramann fiel bei alldem dann auch nichts Gescheites mehr ein. Seine Glanzleistung ist die Bettszene: Blick auf den liegenden Mann, Kamera in Hüfthöhe und dann schwenkt SIE ihre Lenden vorbei. Hat man das nicht schon öfter gesehen?

Andreas (Jugendserien-Star Patrick Bach) kommt als Behinderter nicht nur physisch gut zurecht, er muß natürlich auch noch solche Ulknudel sein, daß selbst sein gefürchteter Chef ihn ins Herz schließt.

Auf all die Probleme, die die Beziehung Behinderter und Gesunder mit sich bringt, auf Berührungsangst und Schwierigkeiten mit dem Selbstwertgefühl wird kaum eingegangen. Und wenn, dann nur oberflächlich, wie in dem konstruierten Chef-Andreas-Kumpel-Verhältnis. All das überdeckt von der schönbunten Welt der Münchner Schickeria.

Henrik Spieß