Frei von Pathos

■ Ein Gespräch mit Irene Dische über Geschichtenerzählen, Fassbinder, New York, jüdische Identität und deutsche Vereinigung

Seit Irene Dische im vergangenen Herbst ihr Debüt mit dem ErzählbandFromme Lügen gab, wird sie in der Literaturszene sehr hoch gehandelt. Ihre Geschichten sind eine süperbe Mischung aus lakonischem Sprachstil, feiner Ironie, makabren Pointen und provozierenden Inhalten, meist angesiedelt vor der Folie jüdischer Emigranten und einer katholischen Überkompensation. So handelt die Titelerzählung, eher ein Kurzroman, von dem absurden Schicksal Carl Bauers, eines nach Amerika geflohenen Juden, der seine verdrängte Geschichte hinter einem reaktionären Katholizismus versteckt. Seine achtjährige Enkelin Sally hält ihn für den untergetauchten Hitler und inszeniert eine am Ende tödliche Intrige. Daß Fromme Lügen in wesentlichen Passagen im New Yorker Leichenschauhaus spielt, wo Sallys Mutter Conny als Pathologin arbeitet, gibt der Story jene morbide Unterlage, auf der Irene Dische ihre makabren Schachzüge zielsicher ausführen kann.

Eine Art Spiegelung des Themas ist die Geschichte Eine Jüdin für Charles Allen, worin der Titelheld, ein stockprüder, katholischer Mittdreißiger aus Oregon, USA, die Erbschaft seines nach Berlin reemigrierten jüdischen Vaters antreten will. Der Nachlaß, ein Antiquitätengeschäft, entpuppt sich als flo rierende Bertrügerhöhle, die von Esther, einer obskuren Pseudojüdin, gemanagt wird. Die Gegensätzlichkeit der beiden bringt Charles in allerhand Turbulenzen, die schließlich in einem Gewaltakt gipfeln.

Mit Hans Magnus Enzensberger hat Irene Dische Mentor und Lektor in einer Person gefunden. Zusammen mit ihm beendete sie gerade eine Neufassung des Librettos der Mozart-Oper Die Entführung aus dem Serail. Ein neuer Roman ist im Entstehen. Die 37jährige, in New York geborene Autorin, die ihre Texte in Englisch schreibt, lebt seit einigen Jahren in Berlin. Sie hat als Journalistin gearbeitet und 1986 ein preisgekröntes Filmporträt über ihren greisen Vater Zacharias, einen deutschstämmigen Emigranten, gedreht. Über ihre Ezählungen und deren Wirkung, über jüdische Identität und die deutsche Vereinigung sprach Peter H. Untucht mit Irene Dische.

Untucht: Ihre Geschichten sind auf eine ungewöhnliche Weise frei von Pathos. Selbst in den makabersten Passagen, wenn etwa das Kind Sally, auf der Geige fiedelnd, durch den Seziersaal streift oder gar Conny Bauer aus der jüdischen Familiengeschichte erzählt und dabei den „Unterhaltungswert“ des Großvaters, als er von SA-Männern erschlagen wurde, preisgibt. Sind das gezielte Effekte oder kreieren Sie zufällig einen neuen Realismus?

Irene Dische: Also ich wollte nicht erschrecken, das war nicht meine Absicht. Die Morgue ist für mich ein Schauplatz, den ich sehr genau kenne. Ich finde, daß es auch ein sehr legitimer Schauplatz ist, wo kaum Leute die Nase reinstecken.

Vor dem die meisten einen puren Horror haben.

Ja, aber das ist ihr Problem. Ich habe das schon sehr vorsichtig gemacht, es ist doch relativ harmlos. Ich gab mir Mühe und wollte das nicht blutrünstig haben.

Sie hatten einen anderen Umgang mit dem Tod als andere Leute. Fürchten Sie sich daher vielleicht weniger vor ihm?

Es ist vielleicht anders, aber die Angst wird nicht verbannt, indem man sich den Tod anguckt. Vielleicht wird sie zum Teil verändert. Ich meine, Ärzte haben ja eine furchtbare Angst vor dem Tod wie jeder andere.

Pathologen auch?

Als ich ein Kind war, mußte mir ein Zahn gezogen werden. Bei dem Ziehen meines Zahnes saß meine Mutter dabei und ist ohnmächtig geworden. Der Zahnarzt hat sich enorm gefreut. Er dachte, jetzt habe ich's endlich mal einer Pathologin gezeigt. Sie hat das Bluten eines Kindes nicht sehen können, obwohl sie ständig Kinder obduziert hat.

In der Erzählung „Eine Jüdin für Charles Allen“ hat man den Eindruck, Sie könnten die Figuren nicht ausstehen.

Das ist schade. Nein, ich habe die Figuren sehr gerne, insbesondere den Charles, das ist eine richtige Lieblingsfigur von mir.

Zum Teil wurde die Vergewaltigung als zu leichtfertig dargestellt empfunden.

Ja gut, wenn man diese Hauptfigur kennt, und ich meine sie zu kennen, dann glaube ich, daß man einsehen muß, daß dieser Mensch Charles nur so reagieren kann. Ich habe sehr viele characters im Buch, die nicht sehr angenehm sind, zum Beispiel auch die Nanny Jackie. Die habe ich auch sehr gerne.

Vor viereinhalb Jahren scheiterte in Frankfurt die Uraufführung des Fassbinder-Stückes „Die Stadt, der Müll und der Tod“. Dabei ging es um die Machenschaften eines jüdischen Häuserspekulanten in der Frankfurter Nachkriegs -City. Mitglieder jüdischer Verbände besetzten bei der Premiere die Bühne. Das Stück wurde abgesetzt. Die Feuilletons der Medien lavierten in ziemlicher Ratlosigkeit, sie wußten nicht, für wen sie Partei ergeifen sollten. Ihre Geschichten sind zum Teil voll sarkastischer Bemerkungen über die jüdische Identität. Die Kritik aber ist Ihnen, mit einer Ausnahme, wohlgesonnen. Können Sie sich das erklären?

Also, ich denk‘ erst mal, wenn man „Eine Jüdin für Charles Allen“ liest, und zwar von vorne bis hinten, dann kann man mir nicht vorwerfen, daß ich antisemitisch bin. Man kann es sich höchstens selber vorwerfen.

In 'Tempo‘ wird das gemacht.

Die haben mir eine Sache angetan, die ich wirklich böse finde. Ich wollte nämlich nicht öffentlich zugeben, daß meine Herkunft jüdisch ist. Das Buch sollte gelesen werden, gerade weil die Leute nicht wissen, was ich bin. So was darf man nicht festlegen. Biller...

...der 'Tempo'-Autor...

...rief mich an, und ich hatte noch gar keine Erfahrung, auf der anderen Seite von einem journalistischen Gespräch zu sein. Er hat sich dann auf eine jüdische Frau bezogen, die ich sehr gut kenne, und tat so, als ob er sie auch sehr gut kennt. Er fragte mich, ob ich jüdisch wäre, und versprach fest, es nicht zu schreiben, wenn ich ihm die Wahrheit erzähle. Und dann stand das da im ersten Absatz.

„Irene Dische ist Jüdin.“ War das ein Vertrauensbruch?

Ja, wahnsinnig! Sonst wäre das nie passiert. Es gab dann dieses Literaturquartett, da wurde behauptet, ich würde mein Judentum vor mir wie einen Schutzschild tragen. Das fand ich grotesk. Diesen Schutzschild geben mir die Medien, die halten es mir vor und schützen sich selbst damit. Ich schütze doch mich damit nicht.

Noch mal zu dem Stück „Die Stadt, der Müll und der Tod“: War dort das Problem, daß es von Fassbinder war, einem Deutschen, der so etwas nicht sagen darf?

Nein, nein, aber das Stück war anders. Fassbinder hatte von Juden überhaupt keine Ahnung.

Die Geschichte stammte ja ursprünglich von Zwerenz, der darüber einen Roman geschrieben hatte.

Ich haßte dieses Buch, ich habe das gelesen. Mein erster großer Aufsatz für 'Transatlantik‘, 1981 erschienen, war über die Juden in Frankfurt. Und er hat viel provoziert. Ich habe diese jüdischen Spekulanten in Frankfurt besucht, die haben ganz offen mit mir geredet. Ich stellte fest, daß diese Leute, von denen Fassbinder so herablassend schreibt, eines gemeinsam haben: Sie sind alle Kinder aus dem KZ. Das gibt doch zu denken. Das sind so zehn jüdische Spekulanten, und die waren alle Waisenkinder, die aus KZs in Polen gekommen sind. Keiner kam aus Deutschland. Die konnten kein Wort Deutsch. Als sie dann in Frankfurt irgendwie hängenblieben, in Waisenheimen oder sonstwo, konnten sie natürlich weder lesen noch schreiben. Was sollten sie machen? Da haben sie natürlich Schwarzmarkthandel gemacht. Ich habe dieses Zwerenz-Buch damals gelesen und es in dem Artikel auch aufgegriffen, ebenso das Fassbinder-Stück. Ich fand beide völlig degoutant.

Die Medien waren damals sehr unbeholfen. Viele hatten da einfach das Problem: Hier wird eine Bühne besetzt, und das geht nicht. Das ist Kunstzensur, und die haben wir offiziell abgeschafft.

Ja gut, aber man braucht doch auch nicht ein so schlechtes Stück aufzuführen. Ich glaube übrigens, wenn Fassbinder jüdisch gewesen wäre, hätte das nichts daran geändert. Das Stück war beleidigend, weil es überhaupt kein Interesse hatte an dieser Figur. Und in meiner Geschichte ist da ein Interesse vorhanden, finde ich.

Vor allem: Sie kommen ja aus einem jüdischen Umfeld, auch wenn Sie sich zwar selbst nicht mehr als Jüdin bezeichnen.

Ich komme aus keinem jüdischen Umfeld.

Ihr Vater war Jude.

Meine Familie mag jüdisch sein, aber ich bin katholisch erzogen. Und ich komme aus einem Stadtviertel, das vielleicht jüdisch war. Aber ich bin mit den white anglo -saxon protestants in die Schule gegangen. Ich verstehe vom Judentum wirklich gar nichts. Aber ich bin New Yorker. Und wenn man in New York aufwächst, dann ist man zwangsläufig irgendwie ein Jude. Alle New Yorker sind Juden. Das stimmt, das ist einfach travelling culture there. Die Deutschen rasen immer nur in die Woody-Allen-Filme, lieben es, nur solche Juden anzugucken, die komisch sind. Aber kommt ein komischer, unbeholfener, deutscher Jude in ihrer eigenen Literatur vor, dann sind sie natürlich ängstlich.

In dem Filmporträt über Ihren Vater klagt Zacharias mit hintergründigem Humor über die fehlende „Zivilität“ der USA. Was er vermißt, ist unter anderem die europäische Atmosphäre der Wiener Kaffeehäuser, deren Pendant er in Amerika allenfalls und ironisch in den McDonald's-Restaurants erkennt. Haben Sie nun an seiner Stelle die fehlende Zivilität in Deutschland wiederentdeckt?

Ja doch, da teile ich seine Meinung vollkommen. Das ist auch ein Grund, weshalb ich hier bin. Er hat völlig recht gehabt.

Es schien, als hätte er eine gewisse Wehmut nach Europa gehabt. Gleichzeitig war es mit seiner Geschichte wohl unmöglich, daß er zurückkehrte.

Das ist eine Sache, die die Deutschen nicht verstehen, daß die jüdischen Emigranten, die weggegangen sind, ohne daß sie weggehen wollten, Wehmut haben. In meiner Nachbarschaft, wo ich aufgewachsen bin, da haben sie von Deutschland geschwärmt, daß kein Rocky Mountain so toll sein kann wie ein Schwarzwaldhügel. Wir hatten in unserer Straße zwei jüdische Frauen, die in Auschwitz und tätowiert waren. Sie haben eine Bäckerei aufgemacht. Wie nannten sie die? „Alpheim Bakery“, also die Alpenbäckerei. Da haben sie Schwarzwälder Kirschtorte gebacken. Das müssen die Deutschen mal verstehen: Diese Juden sind Deutsche gewesen.

Und sie sind es immer noch, obwohl sie da nicht mehr leben können?

Ja, jetzt ist diese Generation zwar fast ganz weg, aber sie hat die Sehnsucht nach Deutschland vermittelt. Ich habe die geerbt. Deswegen komme ich auch zurück, obwohl ich ja den Schwarzwald irgendwie nicht so interessant finde...

Man liest, Sie sind keine Freundin der „Wiedervereinigung“?

Ja, aus ästhetischen Gründen. Das ist im übrigen auch die beste Kategorie, der beste Einwand, der mir einfällt. Dieses „wiedervereint“ - zu was will man denn zurück? Wenn man sich überlegt, was das alte Deutschland war, finde ich das nicht schön. Man braucht nichts anderes zu sagen. Es ist nicht attraktiv, was damals war. Wieso also will man zurück? Es geht um das Ästhetische. Und wenn man es nicht braucht, dann bitte. Aber wenn man Deutschland gerne hat, soll man sich freuen, daß es zwei davon gibt.