„Und am Ende hat der Alkohol übernommen“

■ Horst Zocker, Alkoholiker und Autor des Buches „Betrifft: Anonyme Alkoholiker“, über seine Erfahrungen mit der Sucht / Als Bonner Journalist hat er Einblick in den Mißbrauch von Suchtmitteln bei Politikern nehmen können / „Unsere Politik sieht ja manchmal auch ganz schön besoffen aus“

taz: Woran hast Du gemerkt, daß Du Alkoholiker bist?

Horst Zocker: Ganz spontan ist es mir gekommen. Morgens beim Frühstück habe ich zu meiner Frau gesagt: Ich glaube, ich trinke nicht wie andere. Ich kann einfach nicht aufhören. Ich trinke auch nicht, um mich in gute Stimmung zu versetzen, sondern weil ich das Zeug einfach brauche. Meine Frau, sie ist Ärztin, hat dann sämtliche Argumente herbeigezogen, die bewiesen, daß ich gar kein Alkoholiker sein konnte.

Sie wollte es also nicht wahrhaben?

Sie hat es nicht bewußt geleugnet. Sie hat schließlich vorgeschlagen: Trink doch mal ein halbes Jahr nicht. Und das ging.

Also ein Beweis dafür, daß Du noch gar kein Alkoholiker warst?

Könnte man denken, wenn ich nicht diese Form von Alkoholiker war, die man Quartalsäufer nennt. Ich konnte ganz gut Pause machen. Nachher immer weniger gut. Die Pausen wurden kürzer, die Einbrüche heftiger. Und die Anstrengungen, die ich unternommen habe, um das in den Griff zu kriegen, haben immer mehr Kraft verbraucht. Und jedes Mal habe ich mich mehr geschämt und dafür gehaßt, daß ich es wieder nicht geschafft hatte. Ich habe ja immer das Gefühl gehabt, ich wäre willensschwach. Heute sage ich mir, mit soviel Willen, wie ich am untauglichen Objekt mobilisiert habe, hätte ich an anderer Stelle gottweißwas erreichen können.

Es gibt ja auch die weitverbreitete These, daß jeder, der trinkt, auch Grund dazu hat. Gilt das auch für Dich?

Ich habe Anlässe gesucht und die als Gründe bezeichnet. Ich habe eigentlich immer eher getrunken, wenn es mir gut ging, als wenn ich in Schwierigkeiten war. In extremen Situationen, wo es wirklich Streß gab, bin ich großzügig rumgelaufen, habe allen was eingeschenkt, und selbst habe ich nichts getrunken. Da kam ich mir ganz toll vor. Das hat meinen Masochismus gestärkt, der auch noch beteiligt war. Irgendwie durfte es mir nie gutgehen.

Was mich an Deinem Buch am meisten fasziniert hat, ist die Erklärung der Anonymen Alkoholiker (AAs) fürs Trinken. Danach gibt es sieben Gründe: Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag und Sonntag. Allerdings erscheint das etwas simpel.

Es ist die Erklärung für jemand, der schon drin ist und Gründe sucht, warum er säuft, eben um die Gründe abzustellen und das Saufen zu kontrollieren. Das heißt, es ist immer der Versuch, nicht aufzuhören.

Läßt sich das Saufen überhaupt rational begründen?

Jedenfalls versucht das jeder Trinker. In dem Augenblick, wo er findet, er hat's nicht mehr im Griff, und das macht ja furchtbare Angst, versucht er herauszufinden: Was läuft da eigentlich ab, und warum mache ich das. Es gibt aber keine hinreichende psychologische Erklärung. Über Alkoholismus weiß man immer noch verhältnismäßig wenig. Was man weiß, ist, daß er sich zusammensetzt aus einem physiologischen Defekt plus einer psychischen Verhaltensweise plus einer sozialen Situation. Und alles wirkt zusammen. Bei dem einen kann dies den letzten Ausschlag geben, beim anderen jenes. Es gibt Alkoholiker, die nie wissen, daß sie Alkoholiker sind, weil sie nie Alkohol getrunken haben.

Ich persönlich habe schon von Jugend an gerne getrunken, weil es mich entlastet hat im Umgang mit anderen. Ich war immer ein bißchen ängstlich, gehemmt und scheu. Wenn ich was getrunken hatte, fühlte ich mich besser. Nachträglich ist mir aufgefallen, wie ich mein Leben lang immer wieder in Situationen kam, wo viel getrunken wurde.

Aber das passiert uns doch allen.

Schon, doch man kann darüber hinaus Situationen suchen, wo Trinken zum guten Ton gehört. Man kann in eine schlagende Verbindung gehen oder in Sportvereine. Man kann auch Journalist werden, weil da wie beim Künstlerischen oder Bohemienhaften das Trinken irgendwie dazugehört. Das hat was Genialisches. Und es hat das noch einen anderen Zungenschlag, als wenn man sich abends am Stammtisch der Jungschützen einen reintut.

Wo nun liegt aber der Unterschied zum „normalen“ Trinken?

Ein Alkoholiker unterscheidet sich von den anderen nicht darin, wieviel er trinkt, sondern wie er trinkt. Wenn du, um mit einer psychischen oder sozialen Situation fertig zu werden, immer irgendein Mittel einnehmen mußt, entsteht zunächst so etwas wie eine psychische Abhängigkeit. Doch zunächst kommt der Punkt, wo es erst einmal nur gefährlich wird, vor allem durch eine habituelle Abhängigkeit. Dann kann es sein, daß du regelmäßig zuviel trinkst. Ich kenne Leute in meiner Umgebung, die haben mit Sicherheit immer mehr getrunken als ich. Das ist auch so ein Punkt, wo die Wahrscheinlichkeit, daß du am Trinken kleben bleibst, sich für dich vergrößert. Normalerweise bleibt so jeder siebte dran kleben. Wenn du aus psychischen Gründen, sozusagen um dein Wohlempfinden zu steigern, was trinkst, vergrößert sich der Prozentsatz erheblich. Bei dem einen geht es über die körperliche Abhängigkeit, bei dem anderen über die psychische. Von einem bestimmten Punkt an und bei bestimmten Leuten verselbständigt sich das Ganze. Und dann hängst du drin, und dann merkst du auch bald, du trinkst nicht mehr, weil du dich damit besser fühlst, sondern dann mußt du trinken, um überhaupt noch zu funktionieren.

Wie reagieren denn die Kollegen am Arbeitsplatz, wenn sie merken, daß du zuviel trinkst?

Das erste, was an einem Arbeitsplatz im Journalismus normalerweise geschieht, ist: Wenn du viel trinkst, bist du ein toller Hecht. Wenn du viel trinkst und kannst noch was leisten, bist du ganz toll. Erst wenn du häufiger einbrichst und kannst eine bestimmte Erwartung, die von dir - oft auch zu einem bestimmten Zeitpunkt - nicht mehr bringen, dann kommt: Trink nicht so viel. Wenn die Kollegen dann merken, der hat das nicht im Griff, setzen ganz seltsame Mechanismen ein. Einmal Schutzmechanismen, das heißt, die anderen nehmen dir was ab. Sie versuchen nach außen hin Normalität herzustellen, weil sie im Umgang mir dir ganz hilflos sind. Sollen sie dir sagen, du trinkst zuviel, auch auf die Gefahr hin, daß du sagst, du säufst ja noch viel mehr? Das zweite ist, daß sie dann anfangen, Sachen an dir vorbei zu machen, daß du nicht mehr gefragt wirst.

Daß du also übergangen wirst?

Weil du in Wahrheit auch zum alten Eisen geworfen wirst. Denn du bist nicht mehr voll einsatzfähig, ohne daß sie dir das mitteilen. Du fühlst dich natürlich ungeheuer zurückgesetzt. Wenn du nämlich was getrunken hast, bist du der Überzeugung, daß du eigentlich der Größte bist, und wenn du gerade mal nicht oder doch getrunken hast und in einer weinerlichen Stimmung bist, denkst du, du bist der letzte Dreck, mit dir können sie es ja machen.

Warst Du Dir in solchen Situationen bereits bewußt, Alkoholiker zu sein?

Nein. Bei den Anonymen Alkoholikern ist ja der erste Schritt des Programms: Ich gebe zu, daß ich dem Alkohol gegenüber machtlos bin, daß ich mein Leben nicht mehr meistern kann. Ich kannte die AAs nicht, und ich kannte diesen ersten Schritt nicht. Was ich wußte, war der zweite Teil des ersten Schrittes, nämlich: daß ich mein Leben nicht mehr meistern konnte. Darüber war ich mir viel früher klar, als darüber, daß ich mit dem Alkohol nicht umgehen konnte. Ich habe gedacht, weil ich mit dem Leben nicht fertig werde, trinke ich soviel. Ich bin in Depressionen gerutscht und habe mich in psychiatrische Behandlung begeben. Aber dort war der Alkohol immer nur ein Problem am Rande. Dieses ganze Psycho-Gewerbe - wenigstens vor 15, 20 Jahren - hatte kaum Ahnung.

Schließlich hat mir ein Kollege geraten, mich an die Nervenklinik Bonn zu wenden. Da hat mir eine Ärztin gesagt: Ich lasse Sie entmündigen. Und das war der Punkt, an dem ich wirklich was unternommen habe. Ich ging in die Klinik - und kriegte einen Schock. Denen wollte ich erzählen, welch schweres individuelles Schicksal ich habe und wie außergewöhnlich mein ganzer Werdegang war und wie anders das bei mir sei als bei anderen. Die haben nur gegähnt und gesagt, hör bloß mit dem Scheiß auf. Das Gelaber hören wir jeden Tag. Ich war unheimlich sauer und habe erst mal gefragt, ob sie ein Einzelzimmer für mich hätten. Da haben sie mir geantwortet: Dein nächstes Einzelzimmer ist 1,50 m unter der Erde, 1,80 m lang, 60 hoch und 60 breit. Wenn du das kapierst, können wir dir helfen.

Ich war tödlich beleidigt und ging raus. Dann passierte was ganz Wichtiges. Es kam eine der Frauen aus der Gruppe hinter mir her und fragte: Hast du ein Auto mit? Was geht dich das denn an?, meinte ich. Überhaupt nichts - daß die mich duzte, fand ich unerhört -, aber ich mache mir Sorgen. Und die machte sich wirklich Sorgen. Da war kein Zweifel. Das kriegte ich überhaupt nicht überein, wie die mich zur Schnecke gemacht haben, und trotzdem machten sie sich Sorgen. Und dann, das war wohl ein halbes Jahr später, kam ich deutlich an den Punkt, wo ich wußte, es geht nicht mehr. Wieder hatte ich versucht, mich umzubringen und gedacht, nicht einmal das kannst du, du Flasche. Da habe ich wieder an die in der Klinik gedacht. Das waren die einzigen, die mir schonungslos sagten, wo ich stehe, und mich gleichzeitig nicht fallengelassen haben. Aber noch immer wollte ich nicht sehen, daß ich Alkoholiker bin, nur daß ich mit dem Leben nicht zurechtkam.

Als Alkoholiker kommst du ja auch mit dem Leben nicht mehr zurecht.

Aber die Reihenfolge war anders. Ich hatte immer noch nicht gelernt, ehrlich zu sein. Ich habe eigentlich alles gemacht, was man mir andressiert hatte, nämlich: Gib das gute Händchen und sei schön artig und fleißig. Wenn man dabei noch ein bißchen talentiert ist, kann man es zu was bringen. Nur hatte ich gleichzeitig dabei gemerkt, daß ich eigentlich immer häufiger das gute Händchen gegeben habe, wo ich viel lieber in die Fresse gehauen hätte. Ich hatte ja erfahren: Wenn du dich nicht wie gelernt benimmst, wirst du nicht geliebt. Geliebt werden wollte ich natürlich.

Aber weil ich so nicht leben konnte, habe ich gesoffen. Und am Ende hat der Alkohol übernommen.

Doch am Anfang stand, daß meine Methoden, das Leben zu bewältigen, alle falsch waren. Um die Erkenntnis überhaupt ertragen zu können, habe ich den Alkohol als Ventil eingesetzt, zur Betäubung, zur Entspannung und Entlastung. Lasse ich das Ventil weg, kann ich immer noch nicht besser mit dem Leben umgehen. Das heißt, ich muß einfach anders leben als vorher, damit ich das Ventil nicht brauche. Ich kann mir natürlich statt des Alkohols ein anderes Ventil suchen. Ich kenne ganz viele aus den AA-Gruppen, die, wenn sie trocken sind, ein anderes Ventil finden oder sich in Krankheiten flüchten.

Eine Symptomverschiebung?

Ja. Der Effekt ist immer der gleiche: Ich bin klein, mein Herz ist rein. Nun nehmt mich mal an die Hand und stellt bitte keine Anforderungen wie an einen normalen Menschen. Ich bitte um mildernde Umstände.

Als Betäubungsmittel kannst du alles benutzen. Das ist eine Gefahr, die ich gut kenne, eine andere Droge zu nehmen, zum Beispiel Arbeit.

Wie die workoholics?

Ja, dich besoffen machen mit Arbeit.

Um auf den Arbeitsplatz zurückzukommen. Wie können Kollegen sinnvoll helfen?

Das Wichtigste ist, daß sich rumspricht, daß Alkoholismus wirklich eine Krankheit ist. Womit also die ganze Arie mit dem moralischen Versagen, der Schuld etc. erst einmal wegfällt. Aber auch darauf ansprechen: Du hast ein Problem, Du trinkst zuviel. Wir wollen Dir nur sagen, daß es uns auffällt. Wenn Du krank bist, dann ist das ja keine Schande, aber es ist schon eine Schande, nichts dagegen zu tun.

Also nicht tabuisieren?

Der Kollege wiegt sich ja immer in dem Gefühl, es hat keiner gemerkt. Er gibt sich ungeheure Mühe, für gute Stimmung zu sorgen. Wann immer Anlässe geboten werden, zum Beispiel Überstunden zu machen, sagt er mit Sicherheit: Einer muß es ja machen, und dann macht er es. Das zweite ist, sobald man ihm das gesagt hat, aufzuhören, ihn zu unterstützen. Hilfe für Alkoholiker heißt Einstellen von Hilfe: Ich mache Deinen Dreck nicht weg. Wenn Du nicht über die Runden kommst, dann eben nicht. Wenn Du nichts unternimmst und ich die Folgen tragen muß, dann spiel ich nicht mit. Wenn es um Chefs geht, wird die Sache natürlich komplizierter.

Da wir gerade bei „denen da oben“ sind: Kannst Du als Bonner Journalist Gerüchte bestätigen, daß auch im Bundestag und in Ministerien stark gesoffen wird?

Da wird in der Tat sehr viel getrunken.

Hat das nicht Folgen für die Politik?

Davon bin ich überzeugt. Unsere Politik sieht ja manchmal auch ganz schön besoffen aus. Das kommt aber nicht nur vom Alkohol. Ich glaube, daß Politik auch eine Art Sucht ist. Und daß die Drogen, die man dort braucht, Beifall, Macht, Termine heißen.

Es ist wohl auch ein einsames Geschäft.

Es ist furchtbar einsam. Ich denke manchmal, daß die Berufsbeschreibung eines Politikers identisch ist mit der Symptombeschreibung eines Alkoholikers: Er drückt sich vor Verantwortung, zeigt sich immer von seiner angenehmen Seite für die Leute draußen, er lebt für den Beifall. Was ich auch für typisch alkoholistisch halte: Daß er sich einbildet, er sei der Allergrößte, was bei AA heißt, der Riese seiner Träume, und dann wieder - in Wehleidigkeit versackt - der Zwerg seiner Ängste. Auch in der Politik ist das so: Wenn der Einsatz, den die brauchen, um mit dieser Art von sehr stressigem Leben fertig zu werden, zu hoch wird, müssen sie künstlich nachlegen, und das verselbständigt sich auch. Ganz viele brauchen schon morgens Stoff. Ich weiß von Abgeordneten, die selber früher getrunken haben und jetzt trocken sind - die gibt's in allen Parteien -, die sagen, wir riechen morgens bereits im Fahrstuhl des Langen Eugen, welche Fahnen alt sind und welche schon wieder neu.

Reicht das bis in die Spitzenpolitik hinein?

Ich würde das nicht auf Ebenen begrenzen. Ich habe ein paar Minister im Sinn, die da mindestens Probleme haben. Das hat es ja auch früher gegeben, so bei Churchill. Es ist nun mal so, daß sich Politiker von anderen Menschen viel weniger unterscheiden, als wir wahrhaben wollen. In der Hinsicht sind sie nicht anders als der Polier auf dem Bau.

Wenn der Polier auf dem Bau Alkohol im Blut hat, läuft er Gefahr, vom Gerüst abzustürzen. Ein alkoholisierter Politiker, der in meinem Namen Entscheidungen von größerer Reichweite treffen soll, ist mir wesentlich unangenehmer.

Wenn du Leute nimmst, die über deine Realität bestimmen, weil sie sie gestalten, und sie haben sich in einem krankhaften Zustand von Realitätsverlust hineinmanövriert, wird es verdammt gefährlich. Das sind die Augenblicke, wo man denkt: Blicken die denn gar nicht mehr durch? Bei Barschel zum Beispiel ist es nicht der Alkohol gewesen, sondern Tabletten. Dessen Realitätsverlust habe ich im Wahlkampf erlebt. Ich konnte auch meine Uhr danach stellen, wenn der in einer Rede, vor der er Pillen eingeworfen hat, auf einmal schneller und in ganzen Sätzen sprechen konnte. Plötzlich kamen komplizierte Formulierungen, die er vorher nicht draufhatte.

Wie wehrt sich ein Volk gegen alkoholisierte Politiker?

Indem es sagt - seien die Gründe für eine besoffene Politik nun der Alkohol oder sonstige Formen von Realitätsverlust -, bestimmte Geschichten lassen wir uns nicht gefallen, wir lassen uns nicht die Hucke voll lügen. Dieses aber setzte voraus, daß das Volk nüchtern wäre. Und da habe ich meine Zweifel. Du brauchst doch nur den Wahlkampf in der DDR anzuschauen, diese Deutschen, die den Kohl anhimmeln und einfach die Realität nicht wahrnehmen wollen. Das ist wie ein Traum: Jetzt kommt der Anschluß, und noch einmal wachen wir auf und sind reich. Das ist besoffenes Denken, weil sie nicht gelernt haben, erwachsen und verantwortlich zu leben.

Das klingt wie ein Rezept gegen Alkoholismus: Erwachsen und verantwortungsvoll leben.

Ich denke, daß einer, der das von vorneherein gelernt hätte, kaum in Versuchung gerät, sich mit Alkohol in einen anderen Bewußtseinszustand zu manövrieren. Deshalb habe ich in meinem Buch ja auch ziemlich deutlich geschrieben, das ist allerdings meine Privatmeinung und nicht die der Anonymen Alkoholiker, daß ich die Art, wie wir mit dieser Welt umgehen, auch für besoffen halte. Man könnte dazu genauso sagen, das ist die Unfähigkeit, verantwortlich zu handeln.

Warum hast Du Dein Buch unter Pseudonym geschrieben?

Weil es in der Tat zu den Traditionen und zu den Voraussetzungen der AAs gehört, und weil die Anonymität nicht nur ein Schutz für die eigene Person, sondern auch für die anderen ist. Außerdem will ich auch nicht als etwas Besonderes gelten. Im übrigen mache ich ja in Bonn kein Geheimnis daraus, daß ich Alkoholiker bin. Ich will aber umgekehrt nicht, indem ich mir das Etikett öffentlich aufklebe, von jedem gleich so behandelt werden. Es versteht ja jeder was anderes unter einem Alkoholiker. Ich bin sicher, daß jeder, der ein Problem mit dem Alkohol hat, sich weigern würde, mit mir zu reden.

Toll wäre es, wenn es einen Minister gäbe oder, nehmen wir mal jemand wirklich Unverdächtiges: Richard von Weizsäcker oder Rita Süßmuth, also wenn die das sagten, ich bin deswegen so geworden, wie ihr mich gut findet, weil ich trockener Alkoholiker bin. Das wär ein Durchbruch, eine ungeheure Hilfe, wenn einer aus der vordersten Linie, ein Harald Juhnke der Politik, sagte: Das ist mit mir passiert.

Heißt das, daß zur Zeit immer noch jeder, der nicht zugibt, Alkoholiker zu sein, besser dran ist als einer, der es offen eingesteht?

Ja, weil diese Angst da ist, daß man keine klare Trennung mehr machen könnte. Die Leute möchten ja so furchtbar gerne zwischen „Die“ und „Wir“ trennen. Wir sind in Ordnung, und der hat 'ne Meise. Der säuft, ich nicht. Wir müssen akzeptieren, daß wir alle in dieser Gefahr sind und daß sich für die, die es in den Griff gekriegt haben, eine ungeheure Chance für eine Nachreife und Veränderung eröffnet.

Interview:

Petra Bornhöft und Barbara Geier

Horst Zocker: betrifft: Anonyme Alkoholiker. Selbsthilfe gegen die Sucht. Beck'sche Reihe, München 1989, 152 Seiten, DM 14,80.