Lauter liebenswürdige Wracks

■ Premiere im Schauspielhaus: Roland Schäfer inszenierte „Fortschritt“ von Doug Loucie

Zu berichten ist von einem Regisseur zum Sich-Merken und von einem Stück zum Vergessen: „Fortschritt“ von Doug Loucie, das am Donnerstag im Bremer Schauspielhaus Premiere hatte. Und zu berichten ist von Bruce.

Zunächst also für Ihr Kurzzeitgedächtnis: Die fortschrittliche Ronee geht fremd mit einer Frau. Ihr noch viel fortschrittlicherer Mann Will - in dem englischen Stück Channel-4-Redakteur, bei uns wäre er Lehrer ersatzbefriedigt sich qua fortschrittlichem Gequassel und Helfersyndrom mittels der ProblemträgerInnen um sich herum. Als da ist eine dreischwänzige Männergruppe und sexy Ange, die er er gegen die Schläge ihres nicht so fortschrittlichen Mannes Lenny in seiner Wohnung aufhebt, um Ronee wieder ins Bett zu kriegen. Auch

dem Sensationsreporter Mark gewährt er Wohungsasyl, obwohl der außer dem genitalen Anmachwahn eigentlich kein Problem hat. Ein angestaubtes Gegenwartsstück über die unemanzipierten Emanzipatoren, die seit Jahren im Kabarett von Frankfurter Front bis Richard Rogler schon treffender zu sehen waren.

Am Ende des Stücks sind alle als beziehungsunfähige Würstchen entlarvt. Diese Dramaturgie der Entlarvung sabotiert Regisseur Roland Schäfer. Im ersten Akt, als die Männergruppe unter Wills Führung in emanzipativen Schafspelzen herumredet, zeigt er schon die Wölfe, die in ihnen stecken. Im zweiten Akt, als sich alle als sexuell -emotionale Versager entpuppen, zeigt er die kindlichen Menschlein, die in ihnen stecken. Der voyeuristischen Zyniker Will (Thomas Meinhardt) kommt als armes halb exhibitioniertes Kind hereinspaziert, der Rein-und-weg -Schwule Bruce (Gerald Uhlig) sehnt sich nach der Sicherheit der Familie Ollie (Michael Derda), das sexuelle „Ein-Minuten -Wunder“, buhlt und wirbt erfolglos mit Tulpen und Narzissen im Haar um Martin (Ullo von Peinen).

Aus den zentralen Problemchen dieser großen Kinder läßt Schäfer seine Spieler einen traurigen Witz entwickeln, der eine, je länger die Orgie der Selbstentblößungen geht, um so ansteckender in mitgehende Heiterkeit taucht. Am Ende hat man sich nicht aus-und schlapp gelacht hat, sondern verläßt die Stätte grundlos vergnügt. Kichert noch im Gehen. Wie aufgewacht präzise und zwanghaft Soeren Langfeld, dieser verschlafen-ungelenke Popper-Principe aus der „Emilia Galotti“ da herumgockelt! Was für ein absurder „Come together„

Apostel Michael Derdas Ollie mit seinen Tulpen in Haar und Hosen war. Und Gerald Uhlig als Bruce! Ein Heiterkeitsstopper war bloß Ronee Maria von Bismarcks, die wohl niemand davon abhalten kann, immer die auftrumpfende Zicke zu spielen, egal ob als Gräfin in „Emilia Galotti“ oder Salome in „Liebe und Anarchie“.

Und Gerald Uhligs Bruce: Ein Schwuler, togh-auftretend und exotisch, mit Zöpfchen und Lederhose und Familiensehnsucht ausgestattet wie des Theaters Oberspielleiter, mit dem wach

sam-erschreckten Blick eines Vögelchens in der bösen Welt hin-und herblickend, deren Teil er immer nur zum Teil ist; und mit dieser genialen Sprachhemmung ausgestattet, deren stop and go seinen mittelmäßigen Text in zwerchfell -kribbelnden Schwitters verwandelt. Applaus! Lauter liebenswürdige Wrackmonaden, keine Endzeit- oder Entfremdungsbelegstücke: Das war gute Unterhaltung. Wär das Stück nicht so flau gewesen, hätt man's gar nimmer ausgehalten.

Uta Stolle