Das Rad macht frei

■ Das Fahrrad, so unaufdringlich es auch daherkommt, ist weit mehr als nur ein Fortbewegungsmittel. Es stellt ein kulturelles Symbol dar.

Von

WOLFGANG SACHS

s war schon kurz vor der Jahrhundertwende, daß die Fahrradbegeisterung ihren ersten Höhepunkt fand. Mit der Erfindung des Niederrads waren die Zeiten des halsbrecherischen Balancierens vorbei und, ausgestattet mit Kette, Nabe und Luftreifen, konnte selbst der Unsportliche fröhlich dahinsausen; das Fahrrad war lange vor dem Auto zum Volksverkehrsmittel geworden. Auf dem Stahlroß konnten nun viele eine Beweglichkeit genießen, wie sie früher nur den vornehmen Herren hoch zu Roß vorbehalten war. Im sinnreichen Zusammenspiel von Muskelkraft und Mechanik potenzierten sich die eigenen Kräfte; in behender Geschwindigkeit ließ man die Fußgänger zurück und freute sich übermütig an der neugewonnenen Ungebundenheit. Denn, wie ein Zeitgenosse darlegte, „das Rad untersteht keinem Fahrplan, es ist frei. Nicht folgt es dem allgemeinen Geleise, sondern auf tausend selbstgewählten Pfaden schweift es dahin.“

Die Lust an der Ungebundenheit war von Anfang an ein Thema, welches das Fahrrad begleitete; fortzukommen aus Routine und Gewohnheit, wegzukommen von den überwachenden Blicken und den beklemmenden Regeln des Alltags, diese Sehnsucht verlieh dem Fahrrad seine Bedeutung.

Heute, nach etwa 30 Jahren Massenmotorisierung, verbinden sich wieder Unabhängigkeitsgefühle mit dem Fahrrad, aber vor einem ganz neuen Erfahrungshintergrund: Man sucht Freiheit nicht mehr von sozialer, sondern von technischer Kontrolle, man möchte seine Unabhängigkeit gegenüber der Transportmaschinerie unterstreichen.

Was ist da passiert? Nachdem das Automobil unter dem Banner der Unabhängigkeit die Gesellschaft erobert und seine Vorherrschaft in den Lebensverhältnissen durchgesetzt hatte, rieb man sich verwundert die Augen und stellte fest, daß jene Unabhängigkeit mit neuen Formen der Abhängigkeit erkauft war. Autobahnkreuze und Pipelines, Serviceketten und Versicherungen, Unfallchirurgie und Smogmeßgeräte müssen aufgeboten werden, um die auto-mobile Freiheit zu garantieren. Das Auto, so läßt sich in dieser Perspektive sagen, macht zwar die Menschen voneinander unabhängiger, aber nur um sie vom Ganzen um so abhängiger zu machen. Autofahren erscheint von daher nicht als Akt der Befreiung, sondern als Bedienungsgeste für die Transportmaschinerie.

Im Zeitalter der Pendler und Passagiere kann sich daher die Idee der Unabhängigkeit aufs neue mit dem Fahrrad verknüpfen. Dem alten Drahtesel wächst angesichts von verstopften Straßen, allgemeiner Zeithetze und Ärger über Reparaturen und Abgaben eine neue Unterscheidungskraft zu: Er zeigt, daß sich da einer leisten kann, sich all dies vom Leib zu halten und vom Transportzwang unabhängig zu bleiben. Ein Hauch von Souveränität legt sich um das Fahrrad, und auch ein Stück Pfiffigkeit kommt ins Spiel: Wer radfährt, ist wahrlich sein eigener Herr, kann er doch Staus hinter sich lassen und von jeder Benzinpreiserhöhung unbeeindruckt bleiben.

Nicht tun zu müssen, was all die anderen tun, war schon immer ein Ausweis von Privileg; wo die meisten zum Auto gezwungen sind, gewinnt die Exklusivität des Autolosen eine neue Anziehungskraft.

er sich in den Fahrradsattel schwingt, ist oft überrascht, wie facettenreich, wie vielgesichtig die Welt sich darbietet, die er durchradelt. Man entdeckt abgelegene Wege und unerwartete Ansichten, es wird der Raum in seinem kleinteiligen Reich zugänglich und wahrnehmbar. Hinter dem Steuer sieht man nichts, hört man nichts und riecht man nichts; der Windschutzscheibenblick tötet den Raum zur Durchgangsstrecke. Für den Radfahrer jedoch gewinnen die Details der Nähe an Schärfe; nicht der Blick auf die Ferne, sondern die Aufmerksamkeit für die Nähe geht mit dem Fahrrad einher.

Weil das Fahrrad dazu einlädt, sich die Welt im lokalen Umkreis anzueignen, steht es für ein nachautomobiles Wunschbild: den Umbau der Nähe zur Heimat. Bewohnbare Straßen, Geschäfte und Betriebe um die Haustüre, Fassadengrün und Dachgärten, nachbarschaftliches Getriebe, die Hoffnungen richten sich auf einen ökologischen Umbau der Stadt zu einem selbstbewußten Lebensraum. Sie bezeugen eine neue Vorliebe für ein zentriertes Leben, den Wunsch nach einem eigenen Ort, alles Gegenbilder zur zerfaserten Lebensführung, die das Auto aufdrängt. Das Fahrrad wird zum Paradebeispiel einer Technologie, die zur lokalen Verflechtung herausfordert. Ein solcher Umbau der Nähe zur Heimat bricht dabei mit einem Grunddogma der ruhelosen Gesellschaft: daß Fortschritt heißt, den Widerstand der Entfernung zu verringern und den Raum durchlässiger zu machen. Das Recht, einen fremden Ort aufsuchen zu dürfen, tritt dann hinter dem Recht zurück, einen eigenen Ort zu haben; die Bewohnbarkeit der Nähe wird nicht mehr der Erreichbarkeit der Ferne geopfert.

ie zur Eisenbahn die Bahnhofsuhr, so gehört zum Automobil die Armbanduhr; der unwillkürliche Blick auf die Uhr ist zur markantesten Geste des Industriezeitalters geworden. Gerade zu einer Zeit, als jeder begann, seinen mahnenden Zeiger mit sich zu tragen, und der rationelle Umgang mit Minuten und Sekunden zu einer Verhaltensnorm aufstieg, da erschien das Auto auf den Straßen. Mit der neuen Geschwindigkeit, das es versprach, kam es für das minutenhechelnde Zeitgefühl wie gerufen und wurde sofort als „Zeitsparmaschine“ begrüßt.

Warum aber wird die Beschleunigung aller Vorgänge zur moralischen Pflicht? Das hat mit jenem Fortschrittsglauben zu tun, daß die Zukunft immer besser als die Gegenwart und die Vergangenheit ist. Zeithetze entspringt nichts anderem als einem chronischen Defizitbewußtsein, nämlich dem Grundgefühl, daß man nie genug kriegen und erledigen kann, da die Möglichkeiten von morgen immer die Bedingungen von heute überglänzen. Damit ist jedoch ein Dauerkonflikt programmiert: Das unbegrenzte Wollen stößt gegen die begrenzte Zeit. Schließlich ist allem Fortschritt zum Trotz der Tag in seiner konservativen Art immer nur 24 Stunden lang; weil die Stunden nicht vermehrbar sind, bleibt nur, sie unter Druck zu setzen und aus ihnen durch Planung und Eile mehr herauszuholen. Zeit zu verlieren wird deshalb fast zu einem Sakrileg.

Das Fahrrad signalisiert, daß dieser Fortschrittsglaube, sowohl im Großen als Geschichtsentwurf wie im Kleinen als Alltagsgefühl, am Bröckeln ist. Die Zukunft erscheint nicht mehr als Verheißung, sondern als Bedrohung, denn der Fortschritt, so hat sich gezeigt, beruht auf gigantischen Kostenverschiebungen, die das Morgen eher zur Falle werden lassen. Kurz, mit dem Fortschritt scheint auch der Rückschritt zu marschieren. Vor einem solchen Hintergrund wächst die Bereitschaft, die Gegenwart intensiver und genauer zu leben, anstatt einem vermeintlichen Optimum nachzujagen; das Soll herabzusetzen, anstatt das Haben zu erhöhen. Und man erinnert sich, daß Eile einstmals nicht nur unhöflich war, sondern auch die Sprache immer schon Mißtrauen in die Ruhelosigkeit verriet, man denke an „übereilt“, „voreilig“, „eilfertig“ etc.

Radfahren zieht eine Erfahrung in den Alltag, die gerade für die ökologische Bewegung wichtig geworden ist: daß Selbstbegrenzung ein Gewinn sein kann, daß mit Gelassenheit etwas nicht zu tun einem Konzentration und Souveränität verschafft. Selbstbegrenzung begründet Qualität des Lebens, privat wie auch öffentlich; so belegt die Renaissance des Fahrrads die Suche nach einer fortschrittsbefriedeten Gesellschaft.