Wir alle sollen alle sagen

■ Ein Gespräch mit der russischen Lyrikerin Olga Sedakowa

Irene Maryniak

Irena Maryniak: Warum ist von Ihren Arbeiten in der Sowjetunion immer noch so wenig veröffentlicht, obwohl Sie als Dichterin in vielen Kreisen geschätzt werden?

Olga Sedakowa: Solange ich schlecht geschrieben habe, standen mir alle Türen offen. Als ich aber das erste Mal Gedichte vorlegte, die ich gerne veröffentlicht hätte, wurden sie sofort abgelehnt, ohne Begründung. Danach hatte es keinen Zweck mehr, es noch einmal zu versuchen. Es war ganz offensichtlich, daß meine Arbeiten für unpassend gehalten wurden.

Was machte sie denn so unannehmbar?

Das kann ich schwer sagen. Die Bandbreite der verbotenen Themen und Stile ist kaum zu definieren. Ganz sicherlich war das nicht auf die Politik beschränkt. Andererseits wußte jedes Kind genau, was tabu war. Das schloß Themen ein, die mit den grundlegenden Fragen menschlicher Existenz zu tun haben; alles, was sich mit Seele, Tod und Verzweiflung beschäftigte. Selbst wenn der Autor Atheist war, galten diese Gegenstände als „religiöse Motive“. Ein weiteres Tabu war Weltkultur, ausländische Kultur. Wer sich darauf bezog, ohne den Bezug gleich zu erklären, galt als elitär.

Alles, was eine ungewöhnliche literarische Form hatte, wurde ebenfalls abgelehnt. Das ist auch heute noch so. Der Bereich des Erlaubten ist größer geworden, aber die Neuerungen beschränken sich auf bestimmte politische Themen und auf simple Behandlung religiöser Themen. Das Feld der literarischen Form darf dagegen nicht beackert werden. Überraschendes und Unerwartetes bleibt „unakzeptabel“. Der Zwang, bei Stereotypen zu bleiben, ist groß. Sobald sich einer davon entfernt, reagieren sie hilflos.

Wer sind „sie“?

Das ist ein Begriff aus der sogenannten „Zeit der Stagnation“. „Sie“ - das waren die, die sich in der offiziösen Sphäre bewegten. Jetzt gibt es „sie“ nicht mehr, und angeblich sind nun „wir“ am Drücker. Aber wer ist heutzutage „wir“? Es gibt heute eine Tendenz zur Zwangseingemeindung; wir sollen alle sagen: „Wir alle haben getötet“, „wir alle haben das und das getan“, also „laßt uns uns alle gemeinsam erneuern“. In der Vergangenheit waren auf beiden Seiten die Dinge klarer.

Viele von denen, die unter Breschnjew und Andropow in Amt und Würden waren, leben ja sicher noch. Was ist aus ihnen unter Perestroika geworden?

Viele der Älteren erleben die Veränderung als schweres Trauma. In der Vergangenheit mußten sie ihre Augen fest vor der Wahrheit verschließen, denn wenn man sie gesehen hätte, hätte man handeln müssen. Jetzt ist das sehr schwer für sie. In der Armee beispielsweise gab es welche (nicht viele), die aus ernster, ehrlicher Überzeugung hingegangen sind. Für sie ist es am allerschlimmsten. Wer von Natur aus Konformist ist, hat es leicht. Die erneuern sich einfach in eine andere Konformität hinein. Einige der größten Konformisten werden sogar zu führenden Figuren in der ganzen Perestroika -Bewegung. Für alle diejenigen, die an das System geglaubt haben, muß es jetzt aussehen, als hätten sie diese ganzen Jahre im Irrtum gelebt.

Suchen sie vielleicht nach neuen Grundsätzen, mit denen sie weiterleben können?

Viele haben sich der Religion zugewandt, besonders die, die am „sowjetischsten“ und atheistischsten waren. Sie suchen in ihren Erinnerungen, in ihrer Kindheit, um wieder Boden unter die Füße zu kriegen. Andere versuchen zu vergessen. Sie leben ihr Leben einfach so zu Ende. Sie sind zu bedauern. Als ob alle und keiner Schuld gehabt hätte. Ich denke, es ist am leichtesten für die schlimmste Art von Leuten: für die, die das System aus Zynismus akzeptiert und es gleichermaßen zynisch abgelehnt haben.

Sind die derzeitigen Vertreter der Perestroika diese „schlimmste Art von Leuten“?

Natürlich nicht alle. Zum Beispiel gibt es diejenigen, die erst jetzt die Gelegenheit bekommen haben, ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Leben zu leisten. In ihrem Fall ist das etwas anderes. Ich meine vielmehr Menschen, die nichts eigenes beitragen, sondern nur Gedanken wiederholt und dabei oft verwässert haben, die ursprünglich von Intellektuellen entwickelt worden sind. Das, was unsere Intellektuellen gedacht haben, wird erst jetzt von Leuten sehr anderen Kalibers verbreitet. Es ist schon seltsam, wie jetzt jeder Worte wie „Barmherzigkeit“ in den Mund nimmt. Der „zweiten Kultur“, dem Untergrund der siebziger und frühen achtziger Jahre ist nicht gegeben worden, was ihm zugestanden hätte.

Meinen Sie damit die „Dissidentenkultur“?

Dieser Untergrund war kein ideologischer Untergrund, keiner des Dissidententums; er bestand aus echten Künstlern. Die Dissidentenbewegung entstand in den sechziger Jahren, meine Generation hingegen war gegen jegliche politische Einmischung. Wir beschlossen, die Politik zu ignorieren und uns auf anderes zu konzentrieren. Sehr wenige von denen, mit denen ich viel zu tun hatte, waren noch politisch. Aber ihr Leben war trotzdem sehr schwer, auch ohne direkt politisch motivierte Repressionen. „Sie“ ließen dich einfach... verkümmern. Am Ende glaubte man selbst, daß man gar nicht existierte und lebte nur hungrig, ohne Geld und Unterstützung vor sich hin. Viele Künstler machten ihrem Leben ein Ende oder wurden zu Alkoholikern. Das waren Menschen mit großem Talent. Der Dichter Lyunya Kupan zum Beispiel wurde, solange er lebte, weder veröffentlicht noch jemals von Kritikern erwähnt. Er starb mit 37 Jahren. Das ist kein natürlicher Tod.

Am besten organisiert war der Zirkel in Leningrad. Dort hatten sie die Dichterin Elena Schwarzt und die Lyriker Viktor Kriwulin und Sergei Stratanowsky. In ihren Arbeiten gab es, glaube ich, zwei widerstreitende Richtungen. Sie schrieben entweder im futuristischen Stil der Oberyuty -Gruppe1 und ebneten so den Weg für den Konzeptualismus eines Dmitry Prigow, oder sie folgten den Akmeisten, mit Blick auf Ossip Mandelstam und die Literatur des „silbernen Zeitalters„2.

Und wovon haben sie überlebt?

Man lebte, so gut es eben ging, machte Arbeiten, die sonst keiner wollte. Viele arbeiteten als Nachtwächter, Straßenfeger oder als Feuerwehrleute. Nachtwachen waren besonders beliebt. Wer seine berufliche Qualifikation ins Spiel bringen wollte, versuchte es mit Übersetzungen.

Aber wir kannten bei all dem auch eine gewisse Sicherheit und Wärme. Im Laufe der Zeit entwickelte sich innerhalb des Untergrund eine Hierarchie, die fast so etwas wie eine Parodie der offiziellen Welt war. Jeder hatte seinen Platz. Es gab die Dichter des ersten und zweiten Ranges, und es war sehr schwierig, sich innerhalb dessen noch zu verändern, nachdem man erst einmal festgelegt war. Wir hatten den Andrey-Belyi-Literaturpreis, ein Spiegel des staatlichen Preisvergabesystems. Der Untergrund versuchte, eine eigene Welt zu schaffen. Wir diskutierten über das, was uns interessierte: Levi-Strauss, Heidegger, Achmatowa, Chlebnikow, Pasternak... Sie gehörten uns. Wir mußten ihnen Schutz geben.

Heute gehören sie jedem. In gewisser Weise sind wir unserer Zuflucht beraubt worden, unseres einzigen Besitzes.

Das ist jetzt das Ende einer Ära. Wir hatten dieses Leben unter großen Nöten aufgebaut, und jetzt ist es plötzlich allgegenwärtig. Aber es ist nicht mehr dasselbe. Es sind die falschen Leute, die jetzt das ausdrücken, was wir einmal gedacht haben. Viele Künstler und Schriftsteller sind durch die Perestroika genauso schwer traumatisiert worden wie aufrechte Sowjetideologen.

Wie hat sich der Verlust dieses kulturellen Umfeldes auf Ihr eigenes Schreiben ausgewirkt?

Ich habe Glück gehabt. Ich hatte immer meine Leser und fühlte mich nie mißverstanden oder unakzeptiert. In den letzten Jahren war ich nicht mehr so eng mit literarischen Gruppen assoziiert. Ich lebte auf dem Lande, wo mich nur wenige äußere Ereignisse stören konnten. Unter anderen Bedingungen hätte ich das, was ich geschrieben habe, nie schreiben können. Aber seitdem wir die Auswirkungen der Perestroika spüren, etwa seit zwei Jahren, habe ich kaum noch etwas geschrieben.

Aber ich bin auch ganz froh. Dieser Zustand hätte chronisch werden können. Jetzt müssen wir uns anderweitig umsehen und so viel wie möglich über die Wirklichkeit um uns herum zu erfahren suchen.

1 Oberyuty - eine Gruppe surrealistisch und futuristisch schreibender Schriftsteller am Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre. Ihr bekanntester Vertreter war Daniel Kharms.

2 Zum „silbernen Zeitalter“ werden außer Mandelstam und der schon erwähnten Anna Achmatowa auch Marina Zwetajewa, Blok, Jessenin und Gumiljow gerechnet; gemeint ist die Zeit lyrischer Produktion zwischen Vorrevolution und Stalinismus, die stark geprägt wurde durch die Kinder der gebildeten (und reichen) Bürger Rußlands, ihre Begeisterung für die Revolution wie auch ihre Konflikte mit ihr.

Olga Sedakowa schreibt seit den sechziger Jahren und hat ihre Arbeiten vor allem bei privaten Treffen vorgelesen und durch Samisdat-Drucke veröffentlicht. Sie ist in der Sowjetunion als Rilke-Übersetzerin bekannt, jedoch so gut wie gar nicht durch eigene Buchveröffentlichungen. 1986 wurde ein Band mit ihren Arbeiten in Paris veröffentlicht, eine italienische Ausgabe ist in Vorbereitung.

Irena Maryniak ist Mitarbeiterin von 'Index on Censorship‘ und Expertin für die Sowjetunion.