Experten schützen Strahlen vor Grenzwerten

Die Internationale Strahlenschutzkommission hält eisern am Belastungsgrenzwert von 5 rem für Beschäftigte in Atomanlagen fest Keine Konsequenzen aus neuen Hiroshima- und Nagasaki-Studien / Empfehlungsentwurf bedeutet Bestandsschutz für Atomenergie  ■  Von Holger Relda

Hamburg (taz) - Die Internationale Strahlenschutzkommission (ICRP) will aus ihren eigenen Erkenntnissen über die Gefährlichkeit niedriger radioaktiver Strahlenbelastungen keine Konsequenzen ziehen. Das geht aus einem der taz vorliegenden Empfehlungsentwurf der ICRP hervor. Danach plant die Kommission, die im internationalen Strahlenschutz die Rolle der „heiligen Kirche“ einnimmt, keine grundsätzliche Senkung der jährlich zugelassenen Strahlenbelastungen für Beschäftigte in Atomanlagen.

Der Jahresgrenzwert von 5 rem (50 Milli-Sievert), der auch in der Bundesrepublik Deutschland gültig ist, soll unverändert bleiben. Weiterhin empfiehlt die ICRP erstmals einen Strahlengrenzwert für die Allgemeinbevölkerung: 100 Millirem pro Jahr sollen allgemein zumutbar sein - das ist zwar ein Fünftel des Wertes, den die EG vorgeschrieben hat, jedoch weit mehr als der heute gültige bundesdeutsche Wert von 30 Millirem.

Die ICRP-Empfehlung wird seit Jahren wird mit Spannung erwartet, denn Expertisen der ICRP werden im allgemeinen von den nationalen Strahlenschützern der Industrieländer übernommen. Zuletzt hatte die ICRP 1977 eine umfangreiche „Empfehlung“ mit Grenzwerten für beruflich Strahlenbelastete veröffentlicht und einen Wert von 5 rem pro Jahr empfohlen. Allerdings ging die ICRP damals noch von einem weitaus geringeren Strahlenkrebsrisiko aus. Inzwischen gestehen die Internationalen Strahlenschützer selbst ein, daß das Krebsrisiko viermal höher angesetzt werden muß. Doch wer damit gerechnet hatte, daß daraus Konsequenzen für die Jahresgrenzwerte von Atomarbeitern gezogen werden, muß sich nun eines Besseren belehren lassen.

Statt dessen plant die ICRP die Einführung eines neuen Grenzwertes: In Zeiträumen von jeweils 5 Jahren dürfen insgesamt 10 rem nicht überschritten werden - das wären im Mittel also 2 rem pro Jahr, wobei pro Jahr die 5-rem-Grenze nicht überschritten werden darf. Vorteil dieser Pro-forma -Konsequenz aus den neuen Erkenntnissen: Kritiker können unter Hinweis auf den geringeren Durchschnittswert mundtot gemacht werden, die Atomindustrie hat jedoch trotzdem die Möglichkeit, Arbeiter in bestimmten Jahren - etwa bei Reparaturen und Wartungsarbeiten - weitaus höheren Belastungen auszusetzen.

Analog verfährt die ICRP bei der neuen Grenzwertempfehlung für die Allgemeinbevölkerung: So soll der Jahresgrenzwert von 100 Millirem lediglich im Fünfjahresmittel nicht überschritten werden - Einzelereignisse durch kleinere Unfälle stellen somit keine Gefahr für die Betreiber von Atomanlagen dar: Die erhöhten Strahlenwerte können mit den niedrigen Belastungen der Vorjahre einfach verrechnet werden.

Das Ergebnis der ICRP ist für viele Wissenschaftler überraschend und gilt als unverantwortlich. Allgemein wurde nach den neuen Krebsstudien aus Hiroshima und Nagasaki eine Senkung der beruflichen Grenzwerte auf 1,5 rem oder 1 rem pro Jahr erwartet. Vor zwei Jahren preschte die britische Strahlenschutzkommisson vor und empfahl eine Senkung des Jahresgrenzwertes auf 1,5 rem. Kritische Wissenschaftler gingen weiter und verlangten 0,5 rem als neuen Grenzwert.

Besonders pikant an dem ICRP-Entwurf ist, daß er vor dem Bekanntwerden der neuen britischen Leukämiestudie aus Sellafield abgeschlossen wurde und allein deshalb schon wieder veraltet ist. Die Studie hatte weltweit Aufsehen erregt, weil sie bei relativ niedrigen Strahlenbelastungen ein erhöhtes Leukämierisiko für die Kinder der Sellafield -Beschäftigten nachwies. Die Gewerkschaften in Großbritannien forderten daraufhin eine drastische Senkung der Strahlengrenzwerte, und die Betreiberfirma der Wiederaufarbeitungsanlage sicherte zu, möglichst einen Wert von 1,5 rem pro Jahr einzuhalten.

Selbst Bundesminister Töpfer ließ sich bei der Novellierung der Strahlenschutzverordnung vor einem Jahr von dem niedrigeren Wert von 1 rem pro Jahr leiten. Zwar senkte er den eigentlichen Jahresgrenzwert für Atomarbeiter nicht, sondern verwies hier auf die demnächst zu erwartende Empfehlung der ICRP. Jedoch führte Töpfer einen Grenzwert für das gesamte Berufsleben ein: Über 40 Berufsjahre hinweg darf ein Atomarbeiter nicht mehr als zusammen 40 rem Strahlenbelastung erhalten.

Die endgültige Empfehlung will die ICRP im Herbst verabschieden. Bis dahin wird der Entwurf in „Fachkreisen“ beraten, etwa in der bundesdeutschen Strahlenschutzkommission oder in internen EG-Seminaren. Atomenergiekritische Wissenschaftler haben zu diesen Beratungen - wie sollte es anders sein - keinen Zugang.