Was wird, wenn die Armee abzieht?

■ Der ungarisch-rumänische Nationalitätenkonflikt in Siebenbürgen / Aus Tirgu Mures Erich Rathfelder

Begonnen hatte es am 15. März, als die ungarische Minderheit ihren Nationalfeiertag begehen wollte. Mit Mistgabeln und Stöcken, mit Messern und Molotowcocktails waren in den folgenden Tagen jeweils hunderte Nationalisten beider Seiten aufeinander losgegangen. Drei Menschen wurden getötet, über 300 so schwer verletzt, daß sie in der Poliklinik behandelt werden mußten. Erst mit dem Eingreifen der Armee wurde eine labile Ruhe hergestellt. In der Stadt hörten die Kämpfe auf, in den ungarischen Dörfern jedoch, wo die Armee nicht präsent ist, brennen weiterhin Häuser.

Langsam nähert sich der klapprige Skoda der Straßensperre kurz vor der siebenbürgischen Stadt Tirgu Mures. Aus Vorsichtsgründen ein Auto mit rumänischem Nummernschild, den vor ein paar Tagen ist eine BBC-Journalistin durch rumänische Schläger verletzt worden. Nach den Schreckensnachrichen aus dieser Stadt sei es, so warnen siebenbürgische Rumänen, die oppositionellen Gruppen angehören, vor allem für Ungarn nicht ratsam, in eine Gruppe von rumänischen Nationalisten zu geraten.

Was werden die Soldaten tun, die um die beiden Panzer stehen, zwischen denen eine Fahrspur offengehalten ist? Doch schon bei den ersten Worten weicht die Spannung. Der junge wehrpflichtige Soldat ist freundlich, schaut nicht einmal auf die Papiere und winkt uns durch. Der Weg ist frei nach Tirgu Mures, der Stadt, in der sich am 20. März die Spannungen zwischen Rumänen und Ungarn in einer Massenschlägerei entluden.

An diesem Morgen, an dem nun langsam die Sonne höher steigt und die umliegenden Berge in gleißendes Licht taucht, ist in der Stadt alles ruhig. Zwischen den barocken Gebäuden, die anders als in anderen Ländern Ostmitteleuropas in gutem Zustand sind - manche Häuser offensichtlich vor kurzem renoviert - und entlang der Mauern der Burg treffen wir nur auf friedliche Spaziergänger. Das Stadtzentrum zieren ein Dutzend Panzer, umringt von einigen hundert Soldaten, die gelangweilt um sich blicken. Hinter ihnen dann die ersten Zeichen der Auseinandersetzungen: das von ungarischen Demonstranten völlig demolierte Büro der rumänischen nationalistischen Organisation „Vatra Rumaneasca“ (Wiege Rumäniens).

Nächstes Ziel ist es, das Gebäude der „Ungarischen Demokratischen Union“ zu finden, das am Montag und Dienstag, dem 19. und 20. März, im Zentrum der Auseinandersetzungen stand. Diese Organisation, die während der Revolution Ende Dezember entstanden ist und jetzt um die 60 000 Mitglieder hat, ist zum Diskussionsforum und Rückgrat der zwei Millionen Ungarn im Lande geworden.

Unser ungarischer Begleiter erfragt den Weg - in rumänischer Sprache, denn er traut sich gegenüber Fremden nicht, auf der Straße ungarisch zu reden. Und das in einer Stadt, die noch immer mehrheitich von Ungarn bewohnt ist. Nach der Revolution wurden Pläne des Ceausescu-Regimes gefunden, durch den Bau neuer Stadtteile den Anteil der Rumänen zu erhöhen, eine Information, die bis heute die Gemüter der Ungarn hier erregt. Tirgu Mures war immer Zentrum der ungarischen Minderheit, in den fünfziger Jahren sogar Hauptstadt eines ungarischen autonomen Gebiets - bis 1958 die Rechte der Minderheiten wieder eingeschränkt wurden.

Viele Rumänen, manche Rumänen und Ungarn sprechen sogar von insgesamt drei Millionen, sind der erst im Februar gegründeten nationalistischen „Wiege Rumäniens“ beigetreten. Und mit der „Eisernen Garde“, die offen faschistische Ideologien vertritt, ist sogar eine Organisation entstanden, die ihre Mitglieder schwarze Hemden tragen läßt. Deren politische Haltung drückt sich darin aus, daß bei Veranstaltungen Adolf Hitler mit dem ausgestreckten Arm gefeiert wird.

Das Gebäude der Ungarischen Demokratischen Union sieht nach den gewalttätigen Demonstrationen vom März arg mitgenommen aus, Hausfront und Eingangstür sind demoliert. Hier wurden am Montag, dem 19. März, 60 Ungarn von rumänischen Demonstranten belagert. Als die Soldaten kamen und die Ungarn hinausgeleiten wollten, wurden sie von der aufgeregten Menge angegriffen. Andras Sütö, der Schriftsteller und Führer der Ungarischen Demokratischen Union mußte mit Rippenbrüchen und Augenverletzungen per Hubschrauber nach Budapest geflogen werden.

Die beiden Polizisten, die das Haus bewachen, können keine Auskunft geben, wo Leute aus der Ungarischen Demokratischen Union anzutreffen sind. Auch keiner der vorher avisierten Gesprächspartner wagt uns sprechen, alle Telefonanrufe bleiben unergiebig. Die schon unter Ceausescu aktiven ungarischen Oppositionellen der Stadt sind untergetaucht, denn die rumänischen Nationalisten, wird uns bedeutet, durchstreiften die Häuser und wollten gerade diese Leute fangen.

Schon in Cluj (Klausenburg), auf dem Weg hierher, hatten Rumänen, die der demokratischen Opposition angehören, gewarnt: „Alle, auch wir, haben wieder Angst. Mehr Angst als unter dem alten Regime. Denn jetzt ist der Mob losgelassen, und das kann das Schlimmste bedeuten. Die Securitate konnte dagegen ohne Befehl von oben nicht handeln.“

Vor dem Gebäude der Demokratischen Union allerdings findet sich unter den Umstehenden bald ein Mutiger: Ein alter Mann gibt sich als Mitglied zu erkennen und verspricht, Kontakt zu einem Mitglied der ungarischen Führung herstellen. Am Stadtrand erreichen wir schließlich eine moderne Siedlung, treten in einen Hauseingang und sehen schon von unten die eingeschlagene Tür im ersten Stock. Die Wohnung ist verwüstet, der ungarische Aktivist verschwunden. Vielleicht ist er untergetaucht wie viele andere, oder wurde er von einem Schlägertrupp abgeholt? Kein Nachbar öffnet die Tür, um die Frage zu beantworten.

Der Bruch zwischen beiden Lagern in Siebenbürgen scheint unüberbrückbar. Als nach der Revolution die Ungarn ihre Minderheitenrechte lautstark einforderten, ihr Recht auf kulturelle Autonomie, auf eigene Schulen und Studienzweige an den Universitäten, sogar davon sprachen, Ungarisch zur Amtssprache in den mehrheitlich von Ungarn bewohnten Regionen zu machen, konnten sie noch auf die Sympathie der neuen Revolutionsregierung rechnen. Doch als in den letzten Wochen ungarische Studenten an der Universität von Cluj Forderungen nach ungarischsprachigen Studiengängen konkret stellten und mit Sitzstreiks die Zulassung einer ungarischen Studentenorganisation erzwingen wollten, als die ungarischen Organisationen noch im laufenden Schuljahr Ungarisch als Unterrichtssprache durchsetzen wollten und als in Budapest großungarische Landkarten auftauchten, die Siebenbürgen als Teil Ungarns auswiesen, da reagierte die Regierung mit einem Einfuhrverbot für ungarische Bücher und Schulmaterialien.

Obwohl die in Rumänien lebenden Ungarn sich von solchen Karten distanzierten und jegliche Sezessionswünsche von sich wiesen, begannen die rumänischen Nationalisten, ihre Bevölkerung zu mobilisieren. Auf Massenversammlungen der „Wiege Rumäniens“ und in den Massenmedien wurden die ungarischen Forderungen zurückgewiesen. „Transsylvanien bleibt rumänisch“, „Ungarn raus aus Transsylvanien“, so lauten die Parolen.

Ganz im Stile der faschistischen Bewegung in Italien in den Zwanziger Jahren läuft die Mitgliederwerbung für die Organisation ab. Dabei geraten jene unter Druck, die sich nicht zur Bewegung bekennen wollen. „In der Oper von Cluj wurde den Beschäftigten 48 Stunden Zeit gegeben, um der Organisation bei einer Gebühr von 580 Lei - das Monatsgehalt beträgt 2.000 bis 3.000 Lei - beizutreten und so zu beweisen, daß sie Rumänen sind. 100 Unterschriften waren schon am ersten Tag zusammen. Und das ist kein Einzelfall.“ Das berichtet ein rumänischer Intellektueller über die Praktiken der Organisation in Cluj.

Schließlich gelingt es doch noch, einige der ungarischen Minderheit angehörende Augenzeugen der Ereignisse in Tirgu Mures zu treffen. Am 15.März, dem ungarischen Nationalfeiertag, wurden ungarische Wimpel und Flaggen gehißt. Daraufhin versammelten sich Rumänen, die dagegen protestierten. Schon am nächsten Tag gab es die erste der rumänischen Demonstrationen in der Stadt, die bis heute jeden Nachmittag fortgesetzt werden. Am Sonntag, dem 18. März, rissen dann rumänische Demonstranten die ungarischen Flaggen mit den Rufen „Tod dem Laszlo Tökes“ ab. (Tökes, Pfarrer in Temeswar, sollte Mitte Dezember 1989 verhaftet werden. Die Proteste dagegen lösten die Revolution vom 16.Dezember aus. Am Donnerstag wurde er zum Bischof der Reformierten Kirche in Temeswar bestellt). Am Montag, dem 19. März, versammelten sich erneut 4.000 bis 5.000 rumänische Demonstranten in Tirgu Mures, unter ihnen auch erstmals Bauern der Umgebung, und umzingelten das Haus der Ungarischen Demokratischen Union. Erst dann riefen die Ungarn zu einer Gegendemonstration für Dienstag auf, nachdem die Ungarn vorher aufgefordert worden waren, in den Häusern zu bleiben und Ruhe zu bewahren.

Jetzt überschlugen sich die Ereignisse: Nachdem am Vormittag 40.000 Ungarn demonstrierten und Staatschef Iliescu aufforderten, nach Tirgu Mures zu kommen (der aber angeblich keine Zeit hatte), versammelten sich die rumänischen Demonstranten am Nachmittag. Es kam zu ersten Zusammenstößen zwischen den Nationalitäten, bei denen auch beiderseits Molotowcocktails eingesetzt wurden. Um 18Uhr griffen einige hundert rumänische Bauern aus der Umgebung, die in Bussen in die Stadt gebracht wurden, mit Knüppeln in die Auseinandersetzungen ein, sie drangen in Wohnungen ein und verprügelten die Menschen dort. Um 22 Uhr gingen ungarische Bauern nun ihrerseits mit Knüppeln, Mistgabeln und Messern gegen die Rumänen vor. Die Roma der Stadt, die selbst unter den rumänischen Nationalisten zu leiden haben, solidarisierten sich mit dem Ruf „Ungarn, keine Angst, wir helfen euch“. Die Auseinandersetzungen der Bauern untereinander dauerten bis in die frühen Morgenstunden, die Stadtbevölkerung hatte sich schon frühzeitig vom Ort des Geschehens zurückgezogen.

Die Armee versuchte und versucht weiterhin, die verfeindeten Gruppen zu trennen. Wenn auch einzelne Offiziere ihre Sympathie gegenüber den rumänischen Nationalisten durchblicken ließen, hat sie sich im großen und ganzen an diesen Auftrag gehalten. Die Ungarn in der Stadt stellen sich eher die bange Frage, „Was wird, wenn die Armee wieder verschwindet?“ Zwar gebe es nun Gespräche zwischen der Stadtverwaltung und der Demokratischen Union, die militanten Auseinandersetzungen gingen aber weiter, sie hätten sich nun nur auf das flache Land verlagert - dorthin, wo die Armee nicht anzutreffen ist.

Während die politische Führung in Bukarest sich in ihren Stellungnahmen gegen den Nationalismus wendet, heizt die Bauernpartei die Stimmung an. Nach Informationen der demokratischen Oppositionellen in Siebenbürgen werden die militanten Nationalisten von ihr oder zumindest Teilen ihrer Führung, von der rechtsextremen Emigration aus USA, Kanada und aus Freiburg, von Securitate-Angehörigen („Securisten“) und jenen Mitläufern des alten Regimes im Apparat und an den Universitäten unterstützt, die durch die Demokratisierung zu verlieren haben.

Für die demokratischen Intellektuellen Siebenbürgens sind die Führer der Front, Staatschef Iliescu und Premierminister Roman, keineswegs ein Hindernis auf dem Weg zur Demokratisierung. Eher sei die Front zur Rettung der Nation zu schwach geworden, um die Demokratisierung in Siebenbürgen durchzusetzen und den Nationalisten entgegenzutreten.