Arbeitslose stellen sich der Zukunft

Erstes landesweites Delegiertentreffen des Arbeitslosenverbandes der DDR in Ostberlin/ Bis zu 70.000 Erwerbslose  ■  Aus Berlin Beate Seel

Kein Transparent, kein Plakat an der Stirnseite des noblen Kongreßsaales im Ostberliner Haus der Gewerkschaften wies darauf hin, welche Runde am Stamstag hier zusammenkam: Über Hundert Menschen aus allen Teilen der Republik waren angereist, um am ersten landesweiten Delegiertentreffen des Arbeitslosenverbandes der DDR (ALV) teilzunehmen. Der amtierende Vorsitzende Klaus Grehn bezifferte in seinem Einleitungsreferat die Zahl der entlassenen Erwerbstätigen auf derzeit schätzungsweise 60.000 bis 70.000, wies aber zugleich darauf hin, daß diese Zahl in den nächsten Monaten noch erheblich steigen würde. Grehn zitierte ein Gutachten des Instituts für Internationale Politik und Wirtschaft, nach dem für die nächsten ein, zwei Jahre mit einer Arbeitslosigkeit von 1,5 bis 2 Millionen als Folge der Währungsunion zu rechnen sei. „Im Unterschied zu anderen Parteien ringen wir darum, daß unser Verband möglichst wenig Mitglieder hat“, kommentierte er.

Die erste Phase der „Freisetzung“ habe vor allem Fach- und Hochschulkader getroffen. Jetzt dehne sich der Kreis der Entlassenen auch auf Angestellte und Facharbeiter aus. Mittlerweile treffe die Erwerbslosigkeit zunehmend auch alleinerziehende Frauen und Jugenliche.

Dies schlug sich in der Zusammensetzung der Delegierten noch nicht nieder. Die Mehrheit gehörte mittleren und älteren Jahrgängen an, erstaunliche viele RednerInnen verfügten über einen Doktortitel, und in den Diskussionsbeiträgen zeigte sich, das viele der Aktivisten der ersten Stunde des Verbandes aus den Reihen des alten Staats- und Parteiapparats stammten. „Ich komme aus einem Amt, das aufgelöst wurde“, stellte sich einer der Diskutanten vor, um im folgenden auf die von der Arbeitslosigkeit „doppelt Betroffenen“ hinzuweisen: diejenigen nämlich, die aus einem der „aufgelösten Bereiche“ stammten und nicht nur ihre Stelle verloren hätten, sondern „möglicherweise auch mit Berufsverbot in irgendeiner Form“ zu rechnen hätten. Der persönliche Hintergrund eines großen Teils der Delegierten zeigte sich auch, als sich die amtierenden Bezirkssprecher vorstellten: Der eine war Mitglied des Kreisvorstandes der PDS seiner Stadt, ein anderer arbeitete an einer Parteihochschule, ein dritter stellte sich als ehemaliger Professor für Soziologe vor, der einen neuen Arbeitsplatz als Hausmeister gefunden hatte...

Die sozialen Folgen des für die DDR völlig neuen Phänomens der Massenarbeitslosigkeit, die „Bedrohung des psychischen Gesundheitszustands großer Teile der Bevölkerung„(Grehn), die möglichen familiären Belastungen mündeten in Rufen nach der Schaffung von Kommunikationszentren, in denen die Arbeitslosen Hilfe und Beratung, aber auch das Gespräch mit anderen Betroffenen finden können. Dem „Schandfleck für jede entwickelte Industriegesellschaft“ wurde „das Recht auf Arbeit in einer sozialen Marktwirtschaft“ gegeübergestellt. Es blieb einem Vertreter des Arbeitslosenzentrums aus Frankfurt/Main vorbehalten, darauf hinzuweisen, daß strukturelle Arbeitslosigkeit und Zwei-Drittel-Gesellschaft mit der sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Hand in Hand gehen.

Der schwarze Peter für die aktuelle Misere wurde von den völlig überlasteten Arbeitsämtern, die einige Beobachter entsandt hatten, „Amateurkapitalisten“, die sich viel schlimmer aufspielten als „wirkliche Manager“, und der Regierung, die über keinerlei Gesamtkonzept verfüge, hin und her geschoben. Besonders bitter stieß den Versammelten auf, daß das Ministerium für Arbeit und Löhne trotz mündlicher Zusage keinen Vertreter geschickt hatte. An den neuen Vorstand erging die Aufforderung, eine geharnischte Protestresolution zu verfassen. Von den Parteien waren der Unabhängige Frauenverband, die SPD und natürlich die PDS anwesend.

Auch VertreterInnen der Gewerkschaften waren gekomen, die in der DDR weniger Berührungsängste mit den Arbeitslosen haben als in der Bundesrepublik, wie schon der Tagungsort zeigte. So will der Apparat dem ALV Räume und Material sowie eine finanzielle Unterstützung von einer Millionen Mark zur Verfügung stellen.

In der Debatte um das zu verabschiedende Statut brachte die Redaktionskomission einen Änderungsvorschläge ein, der ein latentes Thema der Debatte aufgriff: Das Verhältnis zu ausländischen Arbeitern. Bei der Frage, wer Mitglied des Verbandes werden könne, solle der Begriff „Bürger“ durch „Person“ ersetzt werden, um nicht nur Staatsbürgern der DDR, sondern auch Bürgern anderer Staaten den Beitritt zu ermöglichen. Zuvor war in zwei Redebeiträgen moniert worden, daß „Deutsche ihren Arbeitsplatz verlieren“, während ausländische Arbeiter aus Vietnam und anderen Ländern nicht nach Hause zurückgeschicht würden.

Ein anderer Änderungsvorschlag ließ anklingen, wie sich die Anwesenden ungeachtet der aktuellen Entwicklung selbst definieren: Das Wort „Arbeitnehmer“ wurde durch den Begriff „Werktätiger“ ersetzt. Begründung der Komission: „Irgendwann kommen wir sicher nicht drumherum, das Wort zu verwenden, aber wir müssen den Dingen ja nicht vorgreifen.“