Türkei: „Feministische Frauenbewegung“

■ Interview mit der Politologin Sirin Tekeli / Nach dem Militärputsch regten sich feministische Gedanken

Sie gehört zu den ersten Frauen in der Türkei, die sich als Feministin bezeichneten: Sirin Tekeli, Jahrgang 1944, Politologin. Nach dem Militärputsch hat sie ihre Stelle an der Uni in Istanbul gekündigt, da sie unter den militärischen Verhältnissen ihre Arbeit

nicht mehr fortsetzen konnte. Zu ihren Veröffentlichungen gehörden auch zwei wichtige Bücher für Frauen („Frauen und das politische und gesellschaftliche Leben“ sowie „Für Frauen“). Sirin Tekeli war ebenso wie die Journalistin Sedef Özturk zur Freude der Bremer Türkinnenn zur 8. Bremer Frauenwoche eingeladen.

taz: Warum unterscheiden Sie zwischen Frauenbewegung und feministischer Frauenbewegung, zwischen der Zeit vor dem Militärputsch 1980 und der Zeit nach dem Militärputsch?

Sirin Tekeli: Wenn wir die Zeit bis zum Anfang dieses Jahrhunderts zurückverfolgen, stellen wir fest, daß es auch in der osmanischen Zeit eine feministische Bewegung gab. Sie wurde mit der Gründung der türkischen Republik zerstört. Atatürk

Neben vielen anderen staatlichen Reformen leitete Atatürk auch die sogennante „Frauenrevolution“ in die Wege (Wahlrecht für Frauen, Verbot des Kopftuchs), wodurch für ihn die bislang existierende Frauenbewegung überflüssig wurde. Nachdem Atatürk seine Reformen durchgeführt hatte, wurden die Frauenvereinigungen verboten. Die Frauenvereine, die danach gegründet wurden, haben z.B. Nationalfeiertage organisiert.

In den 70er Jahren gab es in der Türkei politische Bewegungen der Linken, und in jeder linken Organisation waren Frauen vertreten. Sie machten ihre Analysen

nach der marxistischen Theorie. Das Ziel war der Sozialismus. Natürlich gab es auch Frauen, die die Entwicklungen in Europa in der Frauenbewegung verfolgten, aber der Marxismus stellte eine unumstrittene Hegemonie dar. Militärputsch

Die Frauen in den linken Organisationen blieben auf einmal allein, da infolge des Militärputsches 1980 viele Männer aus den Führungspositionen in die Gefängnisse kamen. Erst danach fingen diese Frauen an, Fragen zu stellen. Sie fragten sich, welche Positionen sie gehabt haben, ob sie als Frauen unterdrückt worden sind und was Patriarchat und Sexismus heißt.

Das klingt, als ob Sie den Militärputsch billigen würden?

Sirin Tekeli: Nein, auf keinen Fall. Ich denke nur, daß es unglücklich war. Aber wir müssen das auch anders sehen. Nach dem Putsch wurden die Menschen depolitisiert. 50.000 Menschen wurden verhaftet, dies mußte natürlich einen demokratischen Widerstand hervorrufen.

Die erste Oppositionsgruppe bestand aus Frauen, die in der Frauenbewegung engagiert waren. Wir waren die Vorreiterinnen für viele Initiativen, z.B. in Menschenrechts-und Umweltfragen. Wir waren die erste ernstzunehmende Opposition.

Kann man in der Türkei von einer Frauenbewegung sprechen, wenn man einen Vergleich zieht mit europäischen Ländern?

Sirin Tekeli: Natürlich sind wir noch am Anfang. Die Bewegung entstand zehn Jahre später als in Europa. Eine Frauenbewegung erfordert zuerst demokratische Verhältnisse, und dies war in der Türkei immer schwierig. Das heißt jedoch nicht, daß da keine Bewegung ist. Ich glaube, es ist falsch, europäische Maßstäbe zu nehmen. Wir müssen unsere Maßstäbe selbst entwickeln.

Wie geht Ihr an die Öffentlichkeit? Lange Zeit waren doch Demonstrationen verboten?

Sirin Tekeli: Wir habe die erste legale Demonstration 1987 organisiert und zwar gegen Gewalt. Männergewalt: Demo

2.500 Frauen und 500 Männer waren anwesend. Diese Demo war nach dem Putsch 1980 die erste, und es war für uns sehr wichtig. Denn Gewalt gegen Frauen war ein Tabuthema und dafür gingen Frauen auf die Straße. Die Bewegung hat in den Großstädten angefangen, aber wir hören in letzter Zeit auch viel von neuen Frauengruppen in ländlichen Gebieten.

Wie sieht die Bilanz nach zehn Jahren Frauenbewegung aus?

Sirin Tekeli: Als erstes haben die Menschen angefangen zu verstehen, daß der Feminismus nichts Ekelhaftes, Reaktionäres, sogar Faschistisches ist. Die Presse spielte hier eine große Rolle. Am Anfang hat die Presse uns entweder ignoriert oder sich lustig über uns gemacht. Jetzt ist es anders: Der ernstzunehmende Teil der

Presse ist heute neugierig und möchte wissen, was wir zu sagen haben. Können Druck ausüben

Es wird immer wieder vergessen, daß laut Gesetz der Mann das Oberhaupt der Familie ist. Es gibt viele Paragraphen, die mit Gleichberechtigung nichts zu tun haben. Zum Beispiel der neueingeführte § 438 des türkischen Strafgesetzes, in dem festgelegt wurde, daß die Strafe des Vergewaltigers danach berechnet wird, ob die Frauen eine Prostituierte ist oder nicht. Dieser Paragraph hat viel Ablehnung erfahren. Überall wurde diskutiert. Jetzt ist es soweit, daß im Parlament an eine Änderung gedacht wird. Wir sind soweit, daß wir Druck ausüben können.

Tag für Tag entstehen neue Frauengruppen. Sie schießen wie Pilze aus dem Boden. Die Gründung einer Frauenbibliothek in Istanbul ist zur Zeit in Planung, um Informationen über Frauen und Frauengruppen zu zentralisieren. Wir wissen nicht, was überall passiert.

Was ist für die Zukunft geplant?

Sirin Tekeli: Es ist schwer, die Zukunft vorausuzusehen, da die Türkei immer noch Schwiergkeiten mit der Demokratie hat. Alle zehn Jahre kommt ein Putsch. Es könnte alles unterbrochen bzw. verboten werden. Ich erwarte trotzdem, daß die Frauenbewegung sich ausbreitet.

Interview und Übersetzung: Gülbahar Kültür