Ein schlichtes Herz

■ „Alltag bei Familie Freud - Die Erinnerungen der Paula Fichtl“ von Detlef Berthelsen

Micha Lechner

Daß Psycho-Urvater Sigmund Freud mit Vorliebe Havannas schmauchte, wissen wir spätestens seit „Trivial Pursuit“. Aber hat sich schon jemand Gedanken gemacht, wer die kurzen, dicken Stummel alltäglich aus seinem Aschenbecher kippte? Oder von wem die berühmteste Couch der Welt regelmäßig mit frischem Leinen bezogen wurde? Antworten auf diese ungestellten Fragen gibt ein Buch des deutschen Journalisten Detlef Berthelsen: Es war Paula Fichtl, 53 lange Jahre guter Schatten und heimliche Herrscherin des Hauses Freud.

In 80 Stunden hat die 77jährige Paula Fichtl Berthelsen und seinem Tonband ihr Herz ausgeschüttet. Sie hat ihm Briefe, Dokumente und Photos anvertraut. Material genug, eine Biographie zu schreiben, die Paula Fichtls Lebensgeschichte erzählen will, die vor allem den Dunstschleier um Familie Freud lichtet. Das Buch heißt: „Alltag bei Familie Freud Die Erinnerungen der Paula Fichtl“.

Paula Fichtls Geschichte, wie sie ihr Biograph rekonstruiert, beginnt symptomatisch: 1902 geboren, wächst die Eisenbahnertochter aus den österreichischen Dörfchen Gnigl in ärmlichen Verhältnissen auf. Früh muß sie lernen, sich nützlich zu machen; sie hütet Kühe und Geschwister, hilft in einem Krämerladen. Nie will sie anderen zur Last fallen. Mit siebzehn geht sie nach Salzburg und wird Küchenmädchen. In den nächsten zehn Jahren arbeitet sie sich bis zum Kindermädchen hoch. Ihr Aufstieg endet in Wien, als „Mädchen für Alles“ wird sie dem Hause Freud zeitlebens dienen.

Die Erinnerungen Paula Fichtls geben den Blick frei hinter die Kulissen. Sie führen ein in die freudsche Alltagswelt, die Wohnung in der Berggasse 19. Dort sind sich die Mitglieder der Familie - Freud, seine Frau Martha, deren Schwester Minna sowie Tochter Anna - beengend nahe. Für Paula bleibt nur der Platz vor der Ordination: Auf einer Sitzbank im Flur verschläft sie ihre Wiener Nächte.

In der muffigen Welt der roten Plüschsofas, riesigen Perserteppiche und dunklen Tapeten macht sich Paula nützlich. Außer einem Putzfimmel gönnt sie sich nichts. Nachdem sie den Kampf um die Alleinherrschaft unter den Dienstboten gewonnen hat, besorgt sie Küche und Haushalt ohne Beistand. Paula Fichtl hat ihre Lebensaufgabe gefunden, und die läßt sie sich nie wieder nehmen.

Zentrum ihrer Aufmerksamkeit und Fürsorge ist der „Herr Professor„; jeden Abend legt sie dem alten Herrn seinen braun-weiß gestreiften Pyjama aufs Bett. Sie lüftet seine Anzüge und Zimmer, aus denen ihr morgens eine kalte Tabakfahne entgegenweht. Regelmäßig stopft sie die Löcher in seinen Hosentaschen. Zu berühmten Männern gehört eben auch ein Alltag.

Was der Analytiker in seinem Arbeitszimmer, vor allem aber in seinem Behandlungszimmer praktiziert, bleibt der Haushälterin ein Leben lang verborgen. Aus ihrer ganz eigenen Perspektive betrachtet Paula Fichtl das Rätsel Psychoanalyse. Ihrem Biographen vertraut sie, die Außenstehende, rückblickend ihr Urteil über die berühmten PatientInnen an: „Die san mit Depressionen ins Haus kommen und genauso deprimiert wieder hinausgegangen.“

Trotz des Umgangs mit Prominenz und Intelligenz geht Paula der Sinn fürs Reale nie verloren, mit gesundem Menschenverstand spricht sie Dinge aus, die Freud in seinen Fallstudien sorgfältig verschleiert hat: „Die Frauen waren natürlich alle verliebt in ihn... manchmal hat der Professor ganz rote Wangen g'habt, wenn so ein hübsches Ding dag'wesen ist.“

In Paula Fichtls Erinnerungen spiegelt sich das Bewußtsein, etwas geleistet zu haben. Ihr Selbstporträt zeigt sie als „queen of the house“, ohne die bei Freuds nichts funktioniert hätte. Sie ist überzeugt, durch ihre Arbeit an der Geschichte des 20. Jahrhunderts mitgewirkt zu haben.

Am Ende ihrer Geschichte bleibt Paula Fichtl allein zurück. Sie hat alle Mitglieder des freudschen Haushalts überlebt und ist nutzlos geworden. Ihre letzten Tage verbringt sie in einer luxuriösen Heimstatt für Betagte, Kranke und Einsame. Aufopfernd widmet sie sich ihrer letzten Lebensaufgabe: emsigen Freud-Forschern, die sie immer wieder heimsuchen.

Paula Fichtl stirbt am 8. August 1989. Obwohl der Spiegel ihr Ableben - verspätet aber mit Photo - registriert, ist sie nicht mehr als eine Fußnote der Geschichtsschreibung. Was von ihr bleibt ist eine einzige Eintragung in Jones Mammut-Freud-Biographie und das Buch von Berthelsen. Doch selbst in dieser Biographie, die doch ihr Leben in den Vordergrund stellen wollte, ist Paula Fichtl nie Subjekt.

Mit dem Eintritt in die Familie vermischt sich sich Paula Fichtls Biographie untrennbar mit der Geschichte der Famile Freud - im Leben wie im Buch. So sehr sich Paula Fichtl in ihren Schilderungen abmüht, die Wichtigkeit der eigenen Existenz in den Vordergrund zu schieben, Berthelsen glaubt ihr nicht. Er liest zwischen den Relikten ihrer Vergangenheit eine andere Lebensgeschichte.

Paula Fichtls Biographie, wie sie ihr Biograph rekonstruiert, erzählt von Angst, Unterwürfigkeit und Selbstverleugnung. Berthelsen zeichnet das Porträt einer Frau, die keine individuellen Züge besitzt, die immer nur für andere gelebt hat - für Freud, nach seinem Tod für Martha, später für Tochter Anna.

Unbarmherzig überlagern die Autoritäten Paulas Geschichte, verdrängen sie aus „ihrem“ Buch. Alle Erinnerungen und Schätze, die sie ihrem Biographen als Zeichen ihrer Bedeutung anbietet, verweisen immer wieder auf die abwesende Familie, vor allem aber auf Freud.

Aus Paula Fichtls Erzählungenentsteht beim Lesen ein bisher unbekanntes Freud-Bild: Es zeigt nicht den Wissenschaftler, sondern Freud den Arbeitgeber, den Vater, freudlosen Ehemann und Pascha im Zentrum eines Frauenhaushalts. Für Informationen über den Menschen Freud bleibt Paula bis ins hohe Alter eine nie versiegende Quelle. Immer wieder zaubert sie aus ihrem Nähkästchen kleine Schmankerln für die Ohren begieriger Anekdotensammler: Wer wußte schon, daß Freud ein begeisterter Krimi-Leser war? Oder daß sein Hund Jofie bei jeder Therapiesitzung am Fuße der berühmten Couch lagerte? Auch daß zu den Leibgerichten des Analytikers eingepökelte Rindszunge und gedünstetes Gehirn gehörte, wissen wir erst von Paula Fichtl...

Micha Lechner

Alltag bei Familie Freud - Die Erinnerungen der Paula Fichtl von Detlef Berthelsen, dtv, 203 Seiten, 10,80 DM