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Der Untergang der DDR

■ „Die Bundesrepublik ist ein Verfassungs- und kein Volksstaat, und dabei muß es um der Demokratie (und der Verfolgten) willen bleiben“

Thomas Schmid

Die deutsche Teilung - in der DDR zur ultima ratio deutscher Geschichte erklärt und von einer unkritischen, Traditionen gegenüber gleichgültigen kritischen Intelligenz kaltherzig hingenommen - war ein Unding und konnte nicht von Dauer sein. Man verbessert ein Volk nicht, indem man es auseinanderdividiert. Es gibt also die deutsche Frage. Doch es ist gefährlich und geht an den vergangenen wie gegenwärtigen deutschen Realitäten vorbei, sie als nurdeutsche Frage aufzuwerfen. Die deutsche Frage gehört den Deutschen nicht.

Es werden ganz schlichte Fakten zählen (und diese werden das Europa der Nachbarländer nicht eben befördern): Daß das neue große Deutschland der fünfgrößte Territorialstaat Europas sein wird (die Bundesrepublik war der zehntgrößte); daß der ohnehin schon bevölkerungsreichste Staat Europas, die Bundesrepublik, in der Bevölkerungszahl mittels Anbau den Abstand zum nächstgrößeren Staat, Italien, von vier auf zwanzig Millionen Einwohner erhöhen wird; daß das neue Großdeutschland genauso viele Einwohner haben wird wie Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Österreich und die Schweiz zusammen. Daß wir nicht selbst darin ein Problem sehen, ist bestürzend.

Auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker können wir uns nicht stützen. Denn es darf - weil es zur unaufmerksamen Konzentration nur auf das Eigene neigt und einen Hang zum Rabiaten hat - in einer Zeit der Ost-West-, aber eben auch der ökonomisch zwingenden wie moralisch gebotenen Süd-Nord -Migration nicht mehr gelten: „Die europäische Völkerfamilie gedeiht nicht durch Selbstbestimmung ihrer Mitglieder, sondern durch wechselseitige Mitbestimmung und Durchdringung ihrer staatlichen Einheiten.“ Wer will, kann und soll sich selbst finden - Verfassung, Demokratie und Verständigung müssen jedoch strikt vorgehen. Die Bundesrepublik ist ein Verfassungs-, kein Volksstaat, und dabei muß es um der Demokratie (und der Verfolgten) willen bleiben. Wenn - von Jugoslawien über Bulgarien und Rumänien bis zur Sowjetunion

-der Zusammenbruch der sozialistischen Regime heute die lange stillgestellten und durch keine zivile Schule gegangenen Nationalismen freisetzt, die nicht selten geneigt sind, ein altes Unrecht mit einem neuen zu beantworten: Dann ist es eine Pflicht der Deutschem, die ja erfahren haben, was geschehen kann, wenn das geplagte nationale Gefühl alle Rücksicht ablegt, die Gegenseite stark zu machen - die gesellschaftlich und auch territorial, nicht aber blutsmäßig begründete zivile Bürgschaft. Nationale Selbstbestimmung ist zudem nur unter Vergewaltigung bundesrepublikanischer Realität und Verfassung möglich. Denn unter ihrer Ägide würde (bei den gegebenen Gesetzen) den vielen Ausländern, die längst fest zur bundesrepublikanischen Gesellschaft gehörten, das Bürgerrecht in dieser Republik verweigert

-geschenkt aber würde es allen ehemaligen Bürgerinnen und Bürgern der DDR, die mit dieser Republik nur deren weniger zivile Seite verbindet: ihr Anspruch, Rechtsnachfolger des unseligen deutschen Reiches zu sein.

Es geht auch um Demokratie und nicht nur um Ökologie im engeren Sinne, wenn immer lauter nach Dezentralisierung gerufen wird. Große Territorialstaaten, die nationalstaatlich verfaßt sind und nicht auf jenem politischen Prinzip des Bürgerrechts gründen, das sich aus der Zugehörigkeit zu einem konkreten Gemeinwesen herleitet, müssen Monstren sein. Es gibt kein Recht auf ein Reich, und alles spricht - für uns Deutsche zumal - dafür, auf die Bildung eines Reichs zu verzichten. Die Selbstzerlegung realer wie möglicher Reiche in zivile Körperschaften, die politisch stabil sein müßten, kulturell, ethnisch und ökonomisch aber in hohem Maße durchlässig wären: Das, und nicht der Nationalstaat, steht am Ende eines Jahrhunderts an, das zwei große Barbareien erlebt hat, deren eine dem Nationalismus entsprang und deren andere in ihrem Untergang erbitterte und rachsüchtige Nationalismen freisetzt.

Alte Feindschaften sollen verblassen, aber dazu braucht es nichts weniger als den Zusammenschluß, dazu braucht es ganz einfach Verständigung, Austausch und den nüchternen, gemächlichen Umgang mit jedwedem politischen, sozialen und ökonomischen Gefälle. Monströse Operationen darf man sich auf dem Kontinent, dessen absurdes Gefüge gerade in Scherben gegangen ist, nicht leisten: „Jede verfassungsmäßige Demokratie sollte vor der Aussicht zuurückschrecken, einen Staat von der Größe der DDR zu schlucken.“ Das Schlucken wird teuer werden, und es wird innere Zänkereien befördern. Streitsüchtige Hausherren aber sind in der Regel auch streitsüchtige Nachbarn. Statt dessen könnten wir eine ziemlich einmalige historische Chance nutzen: Es hat sich so ergeben, daß wir geteilt wurden, und das hat tiefe Wunden gerissen; nun ist der Grund für die Teilung dahin, und wir gehen nicht mehr an die Ausgangsposition zurück, sondern führen - in Einklang mit unseren besten Traditionen - einem staunenden Europa vor, wie man die Macht festigt und zugleich bannt, indem man sie teilt. Nicht ein Bundesstaat, sondern ein Staatenbund; nicht große, sondern kleinstaatliche Lösungen; und auf keinen Fall die preußische Reichshauptstadt, sondern gerne Konrad Adenauers linskrheinisches Regierungsdorf vor den Toren von Rhöndorf: Es liegt antizentrisch und erinnert mit seiner Barackenatmosphäre daran, daß die Regierungsmacht eine Leihgabe zu sein hat und daß Politik und Leben besser auf gegegenseitiger Distanz bleiben.

Und was die beiden deutschen Staaten angeht: Nicht das große Fressen, sondern - den Markt endlich in sein Recht einsetzend und das ökologisch wie sozial längst Gebotene der Ökonomie auftragend - die bedeutsame Aneinanderbindung und Durchdringung von ausgefuchster Industriegesellschaft und Subsistenzwirtschaft. Nicht Abriß und Neubau, sondern Reparatur und Umbau. Nicht die Ablösung des einen Systems durch ein anderes, sondern - von der Altstadtsanierung bis zum Rückbau der Kombinate - pragmatische Schritte, die den Menschen einen privilegierten Platz einräumen und dem Willen Raum geben. In diesem umfassenden Sinne auch: Förderung des Unternehmertums, des individuellen wie des assoziierten. Und die Befreiung der Ökonomie setzt - das sollte uns der westliche Industrialismus und sein verlotterter Bruder, der östliche Industrialismus, gelehrt haben - das durchsetzbare Recht auf Freiheit von der Ökonomie voraus. Marktwirtschaft paßt gut zur Demokratie. Demokratie folgt aber - wie das nationalsozialistische Vorkriegsdeutschland und das Chile nach der Ermordung Salvador Allendes beweisen - nicht aus ihr. Demokratie ist ein außerökonomisches Erzeugnis. Unternehmer braucht sie, diese müssen aber Bürger sein.

Thomas Schmids Beitrag „Der Untergang der DDR und die Zukunft der zivilen Gesellschaft“, aus dem wir nur kurze Auszüge brachten, erscheint in dem von Blohm und Herzberg herausgegebenen Band „Nichts wird mehr so sein, wie es war Zur Zukunft der beiden deutschen Republiken“. Eine Gemeinschaftsausgabe des Luchterhand Literaturverlages (Frankfurt/Main) und des Verlages Philipp Reclam jun. (Leipzig). Darin außerdem Beiträge von Oskar Negt, Friedrich Schorlemmer, Martina Krone, Gregor Gysi, Rainer Land, Thomas Flierl, Ina Merkel, Rudolf Bahro, Robert Jungk, Antje Vollmer, Otto Kallscheuer, Ernest Mandel, Klaus Hartung, Hans-Christian Ströbele, Günter Grass.

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