Umwelt-Showdown in Nersingen

Der Bürgermeister der bayerischen Gemeinde will seine Schutzbefohlenen vor den Umweltsünden einer Recycling-Firma schützen / Die greift zu rüden Gegenmitteln  ■  Von Klaus Wittmann

Nersingen (taz) - Als die ersten Meldungen die Runde machten, gab es für Hans-Peter Wölfel vielfach nur ein mitleidiges Lächeln. Daß sich der Nersinger Bürgermeister beschattet fühlte, daß er von Wanzen in seinem Büro sprach und für seine Mitarbeiter Polizeischutz beantragte, weil diese angeblich bedroht wurden, wollte so richtig ernst niemand nehmen.

Inzwischen hat sich ein Meßtrupp des Fernmeldeamtes Stuttgart im Rathaus der 8.600-Seelen-Gemeinde im Landkreis Neu-Ulm angemeldet, um nach Wanzen zu suchen. Staatsanwaltschaft und Kripo ermitteln gegen die ortsansässige Recyclingfirma Schüller GmbH und der SPD -Bürgermeister hat bei den Wahlen vor zwei Wochen mit 57 Prozent das Vertrauen seiner Schäfchen bestätigt bekommen.

Belächelt wird der Mann längst nicht mehr, denn die Gutachten, die auf seinem Schreibtisch und bei den Ermittlungsbehörden liegen, sprechen eine deutliche Sprache. Für die Mitarbeiter der Recyclingfirma bestehe eine permanente Gesundheitsgefährdung, steht da schwarz auf weiß, und „schwermetallhaltige Staubablagerungen können durch Wind verdriftet werden und stellen deshalb eine ständige Gefahr für die Umgebung dar“.

In einem Schmelzofen, der nur zum Einschmelzen von Kathodensilber zugelassen ist, sind laut „Arbeitsgemeinschaft Umweltanalytik“ offensichtlich unter Mißachtung aller Auflagen Leiterplatten und Elektronikteile eingeschmolzen worden, ein höchst gefährliches Unterfangen. Am Kamin wurden beispielsweise 12.000 Milligramm Kupfer und 1.000 Milligramm Cadmium pro Kilogramm eingesetztem Schrott gemessen.

Zahlreiche weitere Proben vom Firmengelände haben die Gutachter und die Gemeinde aufgeschreckt. Nicht jedoch das Wasserwirtschaftsamt in Krumbach. Sepp Jagersberger, der Chef des Wasserwirtschaftsamtes, beruhigte kürzlich, die Ergebnisse der jüngsten Bodenproben lägen noch nicht vor. Und die Werte, die er bislang kenne, würden die Befürchtungen nicht bestätigen. Lediglich einmal hätte man eine rund 150fache Grenzwertüberschreitung bei Silber festgestellt. Der Bürgermeister, der die Untersuchungsergebnisse des Wasserwirtschaftamtes für falsch hält, wird von Jagersberger aufgefordert, er solle doch erst einmal den Beweis antreten.

Längst ist in Nersingen und drumherum von Nersing-Gate die Rede. Dabei hat alles ausgesprochen unspektakulär und bürokratisch-nüchtern angefangen. Der Klärwärter der Gemeinde schlug vor rund zwei Jahren Alarm, als plötzlich die Reinigungsleitung der neuen Kläranlage von 98 Prozent auf 82 Prozent zurückfiel. Nachforschungen endeten, so der Bürgermeister, sehr schnell bei der Recyclingfirma Schüller. Als daraufhin seine Beamten Bodenproben ziehen wollten, hätte man sie vom Grundstück gejagt. Erst mit Polizeihilfe sei eine Probenentnahme möglich gewesen.

Das Landratsamt, dem der Bürgermeister Untätigkeit vorwirft, hat inzwischen immerhin eine Computer -Zerkleinerungsanlage, die hochtoxische Stäube an die Umgebung abgegeben haben soll, und einen Schmelzofen stillegen lassen. Die Recycling-Klitsche, bei der immerhin rund 1.000 in- und ausländische Firmen und Behörden, darunter einige Großdruckereien, die Regierung von Schwaben und eine Tübinger Umweltbehörde entsorgen lassen, verweigert jede sachliche Stellungnahme zu den Vorwürfen.

Wenig Handlungsbedarf wird offenbar auch bei den zuständigen Fachbehörden gesehen. Erst auf massiven Druck hin kam es Ende vergangener Woche am Sitz der Regierung von Schwaben in Augsburg zu einem Behördengespräch. Zuvor hatten der Bürgermeister und zwei SPD-Landtagsabgeordnete die sofortige Schließung der Firma Schüller gefordert. Dafür wird jedoch bei der Regionalregierung nach wie vor kein Anlaß gesehen. Zwar wurde aus der angekündigten einstündigen Behördenrunde mit Ministerien, Wasserwirtschaftsamt, Landratsamt und Regierung eine mehr als dreistündige Krisenkonferenz. Schließlich wurde auch eingestanden, daß es bei der Firma Rechtsverstöße gegeben habe. „Eine akute Gefährdung für die Bevölkerung“ indes konnte Regierungsdirektor York Christian Stenschke nicht ausmachen. Diese Woche werden die Schüller-Mitarbeiter von Abgesandten des Gewerbeaufsichtsamts Augsburg untersucht. Zuständig jedoch - wehrt sich der Regierungsdirektor vorsichtshalber zuständig für die Altlasten und eventuelle Gefährdungen in der Vergangenheit sei ausschließlich die Staatsanwaltschaft.

Dann fand die behäbige Betulichkeit ein abruptes Ende: Noch während der Pressekonferenz im Anschluß an die Sitzung in Augsburg wurden Ergebnisse eines weiteren Gutachtens bekannt, das Wasserwirtschaftsamt und Regierung gleichermaßen in große Nöte stürzte.

Hatte Stenschke Minuten zuvor noch versucht, die Angelegenheit unter der Überschrift „keine akute Gefährdung“ kleinzukochen, änderte sich dieses Bild nun schlagartig. Bei Bodenproben, so das neue Gutachten, seien extrem hohe Mineralkohlenwasserstoffwerte von bis zu 20.000 Milligramm je Kilogramm gemessen worden. Gebohrt worden war genau an den Stellen, von denen ein anonymer Briefschreiber berichtet hatte, daß hier mehrfach dioxinhaltiges Kühlöl aus Akkumulatoren einfach ins Erdreich abgelassen worden sei.

„Wir werden unverzüglich dieser völlig überraschenden Information nachgehen und neue Bodenproben ziehen“, versicherten der Regierungsdirektor und der Biologe des Wasserwirtschaftsamtes. Und plötzlich war sich die Runde einig, daß die Sorgen der Bevölkerung womöglich doch nicht ganz so unbegründet seien.

Die Angst geht um in Nersingen und sie hat unterschiedliche Ursachen. In letzter Zeit häufen sich Meldungen, wonach es in der Gemeinde überdurchschnittlich viele Knochenkrebskranke und -tote geben soll. Das Neu-Ulmer Gesundheitsamt wertet gegenwärtig die Totenscheine der letzten zehn Jahre aus; die Familie einer kürzlich an Knochenkrebs verstorbenen Frau hat die Obduktion der Leiche angeordnet, weil ein Tod durch Umweltgifte vermutet wird. Bürgermeister Wölfel beantragte Polizeischutz für einige seiner Mitarbeiter. Ein Beamter sei vom Seniorchef der Firma bedroht worden und dem Klärwärter teilte eine anonyme Stimme am Telefon mit: „Sie Schwein sind schuld, wenn wir entlassen werden!“

Nach Bekanntwerden des überraschenden Gutachtens sind Aussagen ehemaliger Beschäftigter der Firma Schüller von neuer Brisanz. Sie hatten die detaillierten Beschreibungen des anonymen Briefschreibers weitgehend bestätigt. Unter anderem geht es dabei auch um eine besonders elegante Art der „Entsorgung“ über die der anonyme Briefschreiber ebenfalls berichtet hatte, wie inzwischen von ehemaligen Mitarbeitern bestätigt worden ist. Nachts, bei strömendem Regen, sollen LKWs mit mehreren Tanks, die giftige Entwicklerflüssigkeit enthielten, ausgerückt und über die Autobahn A8 Richtung Augsburg gefahren sein. Dabei sei jeweils der Schraubverschluß der Tanks vorher geöffnet und die Brühe gleichmäßig auf den Asphalt entlassen worden sein.

Damit nicht genug, Nersingens Gemeindeoberhaupt Wölfel trug bereits eine neue Horrormeldung in die Öffentlichkeit: Auch Dioxine seien im Zusammenhang mit der Recycling-Klitsche gemessen worden. Detaillierte Ergebnisse der komplizierten Untersuchungen werde er nach deren Abschluß nachschieben. Dann, glaubt Wölfel, könne vielleicht doch noch der Zeitpunkt kommen, zu dem die Gemeinde Nersingen „die Giftküche schließen lassen kann“.