Wer fühlen will, muß hören

■ Hörspielpreise 1990 am Donnerstag zum vierzehnten Mal verliehen / Hörspiel spielt nicht mehr die erste Geige

Donnerstag, 29. März um 15 Uhr. Verleihung der Hörspielpreise 1990. Der große Sendesaal des Rundfunks an der Nalepastraße schaut aus wie ein Orchestergraben zur Spielzeitpause. Die dreizehn Streicher des Kammerorchesters Berlin marschieren vorbei an abgedeckten Flügeln und Klavieren, umschlängeln Mikrofongalgen, Glockenspiel und Schallkästen, plazieren sich vor der großen Orgel im kalten Deckenlicht und fiedeln drauf los.

Bevor der Intendant die roten Mappen und die rot-weißen Blumen den Preisträgern überreicht, treten die Redner des Nachmittags an das einst rote - nun grauverhangene - Pult. Sie sprechen pro media und die Chefs der funkdramatischen Abteilung, Gugisch und Hähnel, gehen gleich in medias res. Sie eröffnen die „bescheidene Feier“ und werben für den Fortbestand des „Biotops Hörspiel“ im Einklang mit der übrigen Kultur-Landschaft. Schauspielerin Jutta Wachowiak, von den Machern zur Tonträgerin erkoren, verweist auf die künstlerischen Leistungen, die im Hörspiel vollbracht wurden und hofft, in Zukunft nicht auf taube Ohren zu stoßen. Auch die Juroren verzichten auf Artigkeiten, Gabriele Kneschke und Michael Hametner preisen „zwischen Verunsicherung und Trotz“ das Hörspiel als künstlerische Avantgarde, moralische Anstalt und hörenswerte Schule der Gefühle. Während drei Fotografen das Pult umdrängen, erinnert Noch -Generalintendant Manfred Klein an seine ungebrochene Liebe zum Hörspiel und an Goethe. Hellhörig für gewärtige Gefahren betont der Komponist Georg Katzer im Namen der Bepreisten, daß das Hörspiel unerwünschten Künsten und Künstlern Nischen bot. Er will auch fürderhin nicht unter dem „Halseisen der Mediokrität“ verstummen.

Dennoch: in den Ohren mancher Radiomenschen mag das abschließende Divertimento B-Dur wie ein Requiem dröhnen. Klingen die Violinen noch so süß; das Hörspiel - bisher mit sechs Sendeplätzen pro Woche allein für Kinder einmalig in Europa - spielt nicht mehr die erste Geige.

Zögerlich schieben sich die Anwesenden nach Abschluß des offiziellen Teils an das kalte Büffet. Da hat der Generalintendant seinen Horchposten schon verlassen. Die Zeiger der Uhr über dem Kontrollraum rücken unaufhaltsam voran.

Der Hörspielpreis wurde zum vierzehnten Mal verliehen. Außerhalb des Blickfeldes der Fernseher schlägt die Hörspiel -Kür auf den Ätherwellen hohe Wogen. Im Herbst wählten Theaterwissenschaftler, Germanisten und Lehrer die besten Produktionen aus. Der Jury Recht auf Vor-Sortierung wird wie folgt begründet: Kein Hörer kann bei den vielen Hörspielen den überblick behalten. Nach zweimaliger Ausstrahlung der ausgewählten Stücke im November/Dezember wurden Hörer und Jury zur Wahl gerufen.

Die Kinderhörspielabteilung mühte sich um hohe Beteiligung. Neben dem in den Zeitschriften FF-dabei, Trommel und Junge Welt veröffentlichten Tip-Zetteln wurden über 2.000 Kinder angeschrieben. Im Kinderland (vormals Pionierrepublik) stellte die Abteilung Hörspiele vor und holte Meinungen ein.

Bisher entschieden sich die Hörer für fesselnde Stoffe, die Kritiker-Jury belohnte Kunstsinn und radiogemäße Umsetzung; beide Körperschaften stimmten überein, wenn es um gesellschaftlich brisante Stoffe ging.

Die engagierte, gediegene und beschauliche Mischung schätzen Hörer im gesamten deutschsprachigen Raum. Jozia, die Tochter der Delegierten oder die heilige Johanna in der Wohnküche nach Anna Seghers‘ Erzählung und der Rosa -Luxemburg-Stoff Ein Tagebuch wird verbrannt erhielten den bundesdeutschen Hörspielpreis „Terre des Hommes“.

Die gute alte Hörspielzeit endete Anfang dieses Jahres. Die Sender drohten, die Hörspielzeiten zu beschneiden und das ziemlich enorm. Viele Hörer wollten ihren Ohren nicht trauen und griffen - angeregt durch einen offenen Brief des Schriftstellers Peter Brasch - zur Feder. Schauspieler, Schriftsteller, Komponisten und immer wieder Hörerinnen und Hörer, alte und vor allem junge, forderten den Erhalt der Hörspieltradition.

Die Gebühren allein reichen keinem Sender. Der Rest soll durch Werbung bezahlt werden. Die Werbe-Kunden fragen nach Einschaltquoten. Und die verhalten sich umgekehrt proportional zu früheren amtlichen Wahlergebnissen. Um auf den letzten Wellenlängen noch zu retten, was zu retten ist, erstreben Sender, alles Wortlastige zu löschen und durch happy-go-lucky-music zu überspielen.

Die Hörspiel-Leute kämpfen ums Überleben (Wer nich?, sezza) Ihr derzeit stärkstes Argument - die Güte der Arbeit von einer kleinen Anhängerschar geschätzt - kann zum Bumerang werden, sowie sich private Sender etablieren und argumentieren: Weshalb sollen Hörer für ein Programm zahlen, das sie gar nicht hören wollen. - Obwohl in der Herstellung billig wie keine andere Gattung, verliert das Hörspiel, wenn es nur ums Geld geht.

Thomas Fuchs