Böhme tritt wegen Stasi-Verdacht ab

■ Vierte Karteikarte enthielt Hinweis auf weitere Akte / Böhme erwartet „langwierige Untersuchungen“

Berlin (taz) - Der Mitbegründer und erste Vorsitzende der SPD der DDR, Ibrahim Böhme, hat sein Vorstandsamt für Partei und Volkskammerfraktion niedergelegt. Mit dieser überrschenden Nachricht trat die SPD-Parteispitze gestern vor die Presse, die auf eine Entscheidung in der Koalitionsfrage gewartet hatte.

Mit Datum vom Sonntag hatte Böhme seiner Partei in einem Brief diesen Entschluß mitgeteilt. Nach Einsicht in die Akten der Staatssicherheit sei deutlich geworden, heiße es in dem Brief, daß weitere Akten gesichtet und langwierige Untersuchungen stattfinden würden. Die Vorwürfe und Beschuldigungen dürften in der jetzigen Situation aber die junge Demokratie nicht belasten. Die SPD-Pressestelle zitiert aus dem Böhme-Brief allerdings keine Unschulds -Behauptung mehr.

Der amtierende SPD-Fraktionssprecher Schröder, gab weitere Auskunft über das „merkwürdig kafkaeske Verfahren“ in der Normannenstraße. Dort sei keine Akte über Böhme durchgesehen worden. Ursprünglich seien drei Karteikarten von einem Stasi -Mitarbeiter gezogen worden, aus denen keine Rückschlüsse auf eine Tätigkeit Böhmes möglich war. Am Freitag war dies der Presse mitgeteilt worden. Die Vertreter des Bürgerkomitees seien dann am Freitag Mittag gegangen.

Die beiden beteiligten Anwälte wollten danach allerdings noch eine Prozeß-Akte Böhmes aus dem Jahre 1978 einsehen, und in dieser Situation muß ein MfS-Mitarbeiter mit einer weiteren Karteikarte gekommen sein. Darauf war der Hinweis auf eine weitere Akte enthalten, über die nicht klar sei, so Schröder, in welcher Form Böhme darin enthalten sei. Über das Wochenende sei nach dieser Akte gesucht worden, teilte Schröder mit, und in dieser offenen Situation müsse Böhme seinen Brief geschrieben haben. Die Suche verlief fürs erste ergebnislos. Es sei aber nicht klar, so Schröder, ob Böhme inzwischen (bis Montag Mittag) erfahren habe, daß die Suche nach der Akte ergebnislos gewesen sei.

Als einen weiteren Grund hat Böhme in dem Brief offenbar seine nervliche Anspannung und seinen gesundheitlichen Zustand angegeben. Böhme habe sich über das Wochenende in einem Krankenhaus aufgehalten und sei dann mit privaten Freunden an einen unbekannten Ort abgereist.

Fraktionschef Schröder drückte sein Befremden darüber aus, daß die Vertreter des Bürgerkomitees offenbar auf die Stasi -Mitarbeiter angewiesen sind, um die Stasi-Vorwürfe zu überprüfen. Offenbar habe dann ein Stasi-Mann ohne Beisein der Vertreter des Bürgerkomitees die vierte, schließlich entscheidende Karteikarte zu Tage gefördert. Da herrsche ein „merkwürdiges Chaos“ in der Normannenstraße, meinte Schröder. Vielleicht sei es erforderlich, aus internationale Experten zur Kontrolle dieses immer noch nicht kontrollierten Apparates beizuziehen.

Für die Überprüfung der anderen Volkskammer-Abgeordneten wird derzeit ein Verfahren erwogen, nach dem zunächst die Betroffenen selbst angeben sollen, in welcher Form sie mit der Staatssicherheit Kontakt gehabt hätten. Erst wenn diese „Ehrenerklärung“ angefochten werde, sollten unabhägnige Untersuchungen stattfinden.

Die SPD-Fraktion will heute nachmittag ihre Beratungen über ihre Haltung zu möglichen Koalitionsverhandlungen aufnehmen.

K.W.