Eine Welt ordentlicher Striche

■ Das Hamburger „Museum für Kunst und Gewerbe“ widmet der Comic-Figur Tim eine Ausstellung

in die

kleinen

Löcher

je ein passender Struppi

Im Mai 1930 erwartete im Brüssler Hauptbahnhof eine riesige Menschenmenge einen Reisenden aus der Sowjetunion. Der junge Mann hatte seit 1929 die

kommunistischen Republiken erforscht und war dabei, zu bemerkenswerten Ergebnissen gekommen. Jetzt hatte er alle Abenteuer glücklich überstanden und konnte gefeiert werden. Was machte es da schon, daß es sich bei Monsieur Tintin nur um eine Comicfigur handelte.

Die inszenierte Ankunft des Papierwesens war der erste sichtbare Erfolg einer Figur, die in den folgenden Jahrzehnten zu einer Legende der Comics werden sollte. Die belgische Reihe Tintin, bei uns unter dem Namen Tim und Struppi bekannt, gilt heute als die klassische europäische Comicserie. Für Comicfreunde wie -feinde ist sie das Musterbeispiel einer Bildergeschichte. Das Geheimnis der fraktionsübergreifenden Zustimmung liegt nicht allein in den einfachen Geschichten, die der rasende Reporter Tim bestehen muß. Die Abenteuer in fremden Ländern mögen spannend sein, übermäßig originell sind sie nicht. Der saubere, blonde Tim macht als strenger Antialkoholiker und Verfechter hoher moralischer Prinzipien die Akzeptanz vielleicht einfacher. Doch frisch gewaschene Helden gibt es reichlich. Der entscheidenede Faktor ist etwas viel Einfacheres: die Zeichnungen.

hier hin

bitte

den

Tim

Ligne Claire, die klare Linie, wird der Zeichenstil genannt, den der Tintin-Erfinder Georges Remi alias Herge in seinen Werken entwickelte. Einfache, klare Striche geben den Landschaften, Dingen und Figuren ihre Form. Keine unübersichtlichen Schraffuren stören das über das Bild kriechende Auge, keine zu realistische Darstellung irritiert den in dem abgeschlossenen Universum kreisenden Geist. Vielmehr signalisieren die Bilder zweierlei: Ordnung und Ewigkeit.

Ein Haus ist ein Haus. Darüber hängt ein himmlicher Himmel. Getrennt ist beides durch einen Strich. Hinter dieser dünnen Linie wird sich keine Unsicherheit verbergen können, keine Erkenntnis einer unbeschreiblich vielfälltigen Wirklichkeit, kein Leben, das so einfach nicht sein kann. Der Mensch, der die Straßenstraße vor dem Haus entlangspaziert, hat einen runden Kopf und lächelt. Keine Falte stört in diesem Gesicht: Das Gesicht ist Lächeln, das Lächeln Gesicht. Nicht eine Persönlichkeit, die vielfältig handeln kann, geht hier. Diese fröhliche Person ist nur eins: fröhlich.

So wie die Unsicherheit einer unüberschaubaren Realität in den Bildern zu einer einfachen Ordnung nivelliert wird, verschwindet auch die mögliche Veränderung einer sich im Fluß befindlichen Welt. Diese Welt, darüber lassen die klaren Striche keinen Zweifel, ist jetzt. Kein Zwischenraum findet sich, in dem sich Zeitkrumen festsetzen können, warten, wirken, zersetzen. Geschlossen sind Rhenunaiar'hier und jetzt, ewig. Der Traum der unzerstörbaren, einfachen Welt erfüllt sich.

Es ist die Welt aus der Sicht eines Kindes. Selbstverständlich gibt es diese Perspektive in dem

anfangs für Kinder ausgelegten Medium häufig. Doch selten wurde sie in soch einer Perfektion erreicht, wurde so ideal die knappe Grenze zwischen glaubhaftem Realismus und naivem Idealismus getroffen.

Da ist im Vergleich das Universum von Donald Duck mit seinen sich wie Menschen gebenden Tieren abwegig und unrealistisch. Und die einst so naiven Superman-Geschichten liegen dank ihres realistischen Zeichenstils viel zu nah an der Wirklichkeit. Tim aber ist beides und damit beides nicht: wirklichkeitsfern und wirklichkeitsnah.

Die erste Geschichte der Reihe, Tim im Lande der Sowjets, war inhaltlich kurios und abwegig (und deshalb lange aus dem Verkehr gezogen). Herge hatte sich bei seinen Recherchen aus zeit-und Geldmangel auf ein einziges Buch beschränkt. Moscou sans Voiles (Moskau ohne Schleier) des ehemaligen belgischen Konsuls Joseph Douillet zeigte das kommunistische Reich allerdings als einen konturlosen Ort des Schreckens. Auch die folgenden Geschichten im Kongo, in Nordamerika und in Ägypten waren wüste Spekulationen. Das änderte sich mit dem fünften Abenteuer, Der blaue Lotos. Für das in China spielende Abenteuer hatte der Comic-Künstler den chinesischen Studenten Chang Chong-Jen als Berater engagiert. Der junge Mann erreichte, daß der Belgier von nun an sorgfältiger recherchierte.

Die späteren Geschichten werden naoch heute für ihren Realismus bis ins kleinste Detail gerühmt. Autos sind ebenso originalgetreu gezeichnet wie Gebäude in fremden Städten. Eine Mondreise, die als Geschichte in den 50er Jahren entstand, wurde, als tatsächlich die ersten Menschen auf dem Mond landeten, für ihre realistische Darstellung bewundert.

Zudem wurden einige Geschichten, in der Welt der Comics wohl einmalig, später aktualisiert. Die alten Autos wurden in den Zeichnungen ebenso gegen aktuelle Modelle ausgetauscht wie Flugzeuge, Häuser oder Inneneinrichtungen. Sogar Personen wurden

teilweise ausgewechselt, ein prügelnder Schwarzer gegen einen weißen Schläger ersetzt. Die Szene sollte nicht rassistisch wirken.

Ganz im Gegensatz dazu steht die in jeder Hinsicht idealistische Handlung. Der junge Held Tim ist das Idealbild des Pfadfinders, der der Schöpfer Herge einst selbst war: mutig, ehrlich, treu, intelligent, tierlieb. Seine Gegenspieler sind so facettenreich nicht, sondern das, was die Bösen nun mal sind: einfach böse. Die Verwicklungen, die sich anfangs meist als leichte Unordnung in der heimatlichen Umgebung ankündigen, sind daher simpel. Im Extremfall können sie auf eine einzige sehr ausgedehnte Verfolgungsjagd zusammenschrumpfen.

Im Laufe der Jahre bevölkerte sich das Tim-Universum mit dem klassischen Repertoire von Serienfiguren. Den väterlichen Freund verkörpert Kapitän Haddock, die Stelle des Clowns wird von dem Polizistenpaar Schulze und Schultze eingenommen, der kuriose Professor heißt Bienlein und die stets mißtrauisch beäugte Übermutter mimt Bianca Castafiore, eine Opernsängerin. So kann sich der Leser in seiner Kinderwelt von einer richtigen Familie begleiten lassen.

Die Ausstellung, die z.Zt. im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe zu sehen ist, wurde anläßlich des sechzigsten Geburtstag der Comicfigur zusammengestellt. Sie ist daher eher eine Feier der Serie als eine repräsentative oder gar kritische Würdigung. Fast jedes Album ist durch einige Originalzeichnungen vertreten, die einen Einblick in die Arbeitstechnik Herges geben.

Skurril sind die Exponate aus dem imaginären Museum Tintin. Es sind reale Objekte, die den realistischen Anspruch der Serie unterstreichen sollen. Drogengefüllte Zigarren aus der Geschichte Die Zigarren des Pharao sind zu sehen, die Spazierstöcke von Schulze und Schultze gibt es zu bestaunen und auch der Arumbaya Fetisch aus dem gleichnamigen Album kann bewundert werden.

Peter Lau