BISSCHEN KRACH

■ 10 Jahre Einstürzende Neubauten in der Neuen Welt

Die türkischen Jugendlichen in der Eisdiele des Einkaufs und Rollbahncenters Neue Welt verstehen selbige nicht mehr. Ob denn heute ein House- oder HipHop-Konzert stattfinde, fragen sie wegen des ungewöhnlichen Andrangs am Eistresen. Nein, es sei eher etwas Klassisches, mit Instrumenten und Gesang und ein bißchen Krach und so. Mit richtigen Instrumenten? Die Jugendlichen schütteln verständnislos die Köpfe. Sie sind kaum älter als die Band, die im Saal über ihnen ihren zehnten Geburtstag feiert. Herr Bargeld und seine Kollegen haben geladen, und alle, alle „Freunde“ sind erschienen.

Wenn Sie auf der Gästeliste stehen, bitte dort hinten anstellen, sonst in die Schlange hier und 28 Mark Bargeld abliefern. Aber vorher, zu Ihrer eigenen Sicherheit, vom „Security Service“ Feist, Schwein & Co. durchsuchen lassen. Sie könnten seit Silvester, ohne es bemerkt zu haben, Feuerwerkskörper bei sich tragen. Früher ging die Gefahr von der Bühne aus, heute vom Publikum.

Eine Geburtstagsparty mit über zweitausend Gästen hat ihre eigenen Gesetze. So gibt es eine abgetrennte Bar, wahrscheinlich der einzige Raum, in dem das Privileg zu genießen wäre, auf Stühlen zu sitzen, Eintritt nur für V.I.N.F. (Very Important Neubauten-Freunde?). Ein solcher scheint auch Heiner Müller zu sein, darf er doch, direkt vorm Auftritt der Geburtstagskinder, ein Gedicht vorsprechen. „Dann schließt sich über ihm der Augenblick“, reimt er unbeholfen über seinen Hamlet Blixa. Es geht also doch unter acht Stunden, wenn man sich und seine Verse ein wenig zusammenreißt. Dann die Band, die alle Medien regelmäßig zu Verzückungen treibt, mit Sätzen wie „Meint ihr nicht, wir könnten uns in Äther braten lassen, auf daß ein bis zwei Prozent uns hörig wären.“ Klar könntet ihr, aber: Ihr seid zu feige dazu. Ihr kokettiert lieber mit der großen Geste des Krachmachers von vorgestern.

„Fütter meinen Ego“, ruft Blixa sich selbst zu, denn der „Tod ist ein Dandy“. Die eingefallenen Wangen flehen nach „einem Stuhl in der Hölle“, und „Marinus, du warst es nicht, es war König Feurio“. Stoff für diverse Rätselseiten im Feuilleton. Ein kluger Kopf, dieser Herr Bargeld, und was der für einen ausgemergelten Körper trägt. Dem muß es mal ganz schlecht gegangen sein.

Die Neubauten wissen inzwischen genau, wie man sich innerhalb ihres Genres verkaufen muß. Marc Chung, der Kaschmir-Träger der Band, sagt es im 45 Fieber -Interview: „Man muß nicht den Inhalt verkaufen, sondern die Verpackung.“ Warum stellt sich jemand eine Neubauten-Platte ins Regal? Um sie anderen zeigen zu können. Tracey Chapman reicht heute für die moderne Komplettgesinnung, kritisch und verzweifelt, nicht mehr aus.

Die Fans von „früher“ werfen den Neubauten vor, nicht mehr anarchisch genug zu sein. Sie vermissen Preßlufthammereinsätze, Verletzungen in den ersten Reihen durch Muftis Steinschläge, funkenstiebende Flexereien und Blechdemolationen in allen Varianten. Das ist konsequenterweise alles vorbei, Mufti spielt inzwischen sogar auf einer echten Trommel, wenn er auch daneben auf ein schepperndes Blechrohr einhackt. Und sich Instrumente selbst zu bauen, wirkt heute schon fast lächerlich, dann lieber ab mit den „durstigen Tieren“ ins Museum. Den Rest erledigen die Verpackungskünstler.

Andreas Becker