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Das ganze Ding ist ein Kunstwerk

■ Leipzig hat einen Piraten-TV-Sender / Kanal X fordert eine offizielle Sendeerlaubnis für nichtkommerzielles Lokalfernsehen / Gegenöffentlichkeit, internationale Nachrichten, Kulturberichte und Ökotips

KanalX? Noch nie gehört!“ Die Leipziger Bürger und Bürgerinnen scheinen sich momentan wohl mehr für die üppigen Warenstände vor dem Hauptbahnhof zu interessieren. Fünf Mark West oder 15 Mark der DDR muß Mann oder Frau für das in Plastik eingeschweißte Scholkoladeneierset hinlegen. Auf unsere Frage nach dem ersten Piraten-Fernsehsender in der DDR, der in Leipzig senden soll, ernten wir nur ungläubiges Staunen. Selbst das Haus der Demokratie, in dem die Piraten ihren Sender installiert haben, ist den meisten auf Anhieb kein Begriff. „Ne, kenn‘ ich nicht. Wie hieß das denn früher?“

Früher beherberte das Gebäude in der Bernhard-Göring-Straße die SED-Bezirksleitung. Mit der Umbenennung in Haus der Demokratie sind dort die Oppossitionsgruppen eingezogen: Unabhängiger Frauenverband, die Grünen, Neues Forum, Homosexueller Arbeitskreis und seit neuestem befindet sich dort auch das Studio des ersten lokalen Fernsehsenders, KanalX. Im Konferenzraum des Neuen Forums, dort wo ehemals die SED-Funktionäre tagten, stehen zwei Fernsehmonitore, eine VHS-Schneideeinrichtung, mehrere Videorecorder, eine Kamera. Die Schaltzentrale des Fernsehstation wirkt eher wie der Hobbykeller eines Videoamateurs. Und doch haben die Privatfernsehpioniere von dort bereits vier Sendungen abgefahren, die im Leipziger Stadtgebiet zu empfangen waren. Alles illegal natürlich, denn in der DDR gibt es (noch) kein neues Mediengesetz, das lokalen Rundfunk zuließe. Das existierende Gesetz über das Post und Fernmeldewesen billigt allein der Post das Recht zu, Fernmeldeanlagen zu errichten und zu betreiben.

Zunächst glaubte denn auch keiner so recht an die verrückte Idee des Leipziger Museumsangestellten Joerg Seyde und seines westdeutschen Freundes Ingo Günther. Die beiden hatten sich am Rande einer Leipziger Kunstausstellung kennengelernt, wo der Düsseldorfer Videokünstler Günther eine seiner Arbeiten präsentierte. „Veränderte Zeiten gebähren ungewöhnliche Ideen“, beschreibt Seyde die gemeinsame Motivation zum Aufbau eines lokalen Fernsehsenders. In Anlehnung an Josef Beuys Begriff der „sozialen Plastik“ wollten sie in Leipzig ein lokales Kommunikationsexperiment starten, bei dem das Fernsehstudio zum „öffentlichen Erfahrungs- und Experimentierfeld“ werden soll. „Das ganze Ding ist ein Kunstwerk.“

Für die Beschaffung der technischen Geräte sorgte Ingo Günther, der über verschiedene Kontakte in kurzer Zeit etwa 10.000 D-Mark an Spenden lockermachte. Dazu kamen Sachspenden und Leihgaben von technischen Gerät. So hatte sich zum Beispiel Wolfgang Rittger, ein Oberhausener Videoamateur, der von dem Projekt erfahren hatte, spontan bereiterklärt, sein VHS-Videoausrüstung, mit der er bislang hauptsächlich westdeutsche Hochzeitsgesellschaften abgefilmt hatte, den Leipziger TV-Piraten zur Verfügung zu stellen. Für 7.000 D-Mark kaufte Günther einen Sender mit einer Reichweite von fünf bis sechs Kilometern, (solche Sendegräte sind im westlichen Fachhandel legal zu erwerben und werden von der Post in Regionen mit schlechtem Fernsehempfang als Verstärker benutzt) und installierte ihn im Leipziger Haus der Demokratie. Doch erst als auf dem Dach des Hauses noch eine große Satellitenschüssel aufgestellt wurde, mit der ausländische Nachrichtenkanäle empfangen werden können, wurden die Leipziger aufmerksam.

Am 17. März, am Abend vor den DDR-Wahlen ging KanalX erstmals auf Sendung. Zwei Stunden lang zeigte man Interviews mit verschiedenen Kandidaten der Oppositionsgruppen, verlaß Nachrichten und präsentierte das Avantgarde-Video eines Leipziger Künstlers auf Fernsehkanal 35, einer Frequenz, die nicht belegt ist und, so versichert Joerg Seyde, „wo man niemand anders stört“. An den folgenden drei Abenden sendete man jeweils von 20 bis 22 Uhr. Die Resonanz war groß. Viele Anrufer gratulierten den TV-Piraten für ihr freches Unternehmen und die internationale Presse stattete den Privatfunkern Besuche ab. Doch was die Post zunächst duldete, wurde dem pflichtbewußten Hausmeister zu viel. Er kappte kurzerhand die Drähte zur Antennenanlage, die ohne seine Genehmigung auf dem Dach „seines“ Hauses errichtet worden war. Mittlerweile interessiert sich alledings auch die Staatsanwaltschaft für die Aktivitäten der Funkpioniere. Von dem Postdirektor alarmiert, wird jetzt gegen Joerg Seyde als Verantwortlichen ermittelt. Ob es zu einer Anklageerhebung kommt ist derzeit noch nicht klar. Staatsanwalt und Hausmeister bringen die Kanal-X-Betreiber jedoch nicht von ihrem Vorhaben ab. Sie wollen nun nach den Volkskammerwahlen beim Medienkontrollrat eine offizielle Sendelizenz beantragen. Ein positives Votum für die Zulassung eines nichtkommerziellen Lokalsenders hatten sich die TV-Piraten bereits bei den Mitgliedern des Leipziger Runden Tisches eingeholt. Mit großer Mehrheit, jedoch gegen die Stimmen von CDU und DSU, ünterstützt der Runde Tisch den Antrag der Kanal-X-Crew.

Neben den Lizenzproblemen plagen die Fernsehmacher noch eine Reihe anderer Sorgen. Das vorläufige Programmkonzept hebt den lokalen und den kulturellen Aspekt besonders hervor. Auf lokaler Ebene will man das politische Geschehen beobachten und kritisch kommentieren. „Wir wollen eine gewiße Gefährlichkeit besitzen“, formuliert Joerg Seyde ihren Anspruch. Dazu gehört als ein Hauptschwerpunkt die Einrichtung eines ökologischen Nachrichtendienstes. Gleichzeitig will KanalX über das kulturelle Geschehen berichten. Jedoch nicht nur auf den Leipziger Raum bezogen, sondern „international“. Wenn in New York eine tolle Kunstausstellung läuft, dann sollen die Leipziger auch etwas davon sehen. Da KanalX natürlich kein eigenes Kamerateam über den großen Teich schicken kann, hofft man auf ein internationales Netzwerk, bei dem internationale Videofreaks ihre Bänder schicken, die dann in Leipzig gesendet werden. Noch werden jede Menge kreative MitarbeiterInnen gesucht, die beim Aufbau des Senders mithelfen. Bislang besteht die Kanal-X-Crew größtenteils aus blutigen Leihen, die weder vor noch hinter der Kamera gearbeitet haben. Eine Sängerin vom Leipziger Theater interessiert sich für die Rolle als Moderatorin und Talkmasterin, ein Krankenpfleger fungiert als Kameramann und ein Psychologiestudent will ab und zu im Studio mitarbeiten, allerdings „erst nach 20 Uhr, wenn die Kinder im Bett sind“. Keine Frage, alle Beteiligten sind hochmotiviert, doch nebenbei müssen sie ihrem Beruf nachgehen und die Familie versorgen. Denn Geld ist vorerst beim Fernsehmachen nicht zu verdienen. Für Ingo Günther ist das Projekt eine „journalistische Utopie“. Er hofft, daß sich genügend UnterstützerInnen finden, damit KanalX sich als Medium lokaler Gegenöffentlichkeit etablieren kann. Er selbst möchte sich entgegen seines „urimperialistischen Instinkts“, die Sache selbst zu managen, nach und nach wieder aus dem Projekt herausziehen, nachdem er seine Geburtshelferfunktion erfüllt hat. Seine jetzige Aufgabe sieht er vor allem im Anleiern internationaler Kontakte. Die Finanzierung des nichtkommerziellen Senders soll über eine Stiftung gesichert werden, der alle Interessierten unabhängig ihrer politischen Überzeugung beitreten können. Als Stiftungsgründer wünscht man sich Prominente wie den Leipziger Gewandhausdirektor Kurt Masur oder den Bürgermeister Magirius.

Auf seiner nächsten Sitzung am Mittwoch den 4. April wird der Medienkontrollrat voraussichtlich über den Antrag der Leipziger TV-Enthusiasten beraten. Bis zur endgültigen Verabschiedung eines Mediengesetzes wünschen die Kanal-X -Betreiber sich eine befristete Sendelizenz. Sie hoffen, daß ihr Aktionismus in der DDR viele Nachahmer findet, damit auch in anderen Regionen ähnliche lokale Kominikationsprojekte entstehen. „Wir müssen Fakten schaffen“, und zwar bevor der Medienkuchen an die übermächtigen kommerziellen Interessenten verteilt worden sei. „Der Sendebetrieb soll am 15. April 1990 für täglich fünf Stunden von 15 bis 20 Uhr aufgenommen werden“, heißt es in dem Antrag. Und was geschieht, wenn der Medienkontrollrat seine Zustimmung verweigert? „Wir gehen auf alle Fälle wieder auf Sendung!“

Ute Thon

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