WIR SIND EIN PACK

 ■  Deutschland einig Stasiland: Aparatschik braucht

Aparatschik

Helmut Kohl ist ein mildtätiger Kanzler: Immer wenn es um die eigene Regierungsfähigkeit geht, entsinnt er sich der Gnade des schnellen Vergessens. In der Parteispendenaffäre wollte er die Bonner Schmierstoff-Empfänger per Generalamnestie weißwaschen, jetzt soll den ehemaligen Mitarbeitern des DDR-Staatssicherheitsdienstes das Recht des frühen Freispruchs zuteil werden. Daß der christliche Kanzler neben der Korruption nun auch den Geheimdienstterror als Kavaliersdelikt eingestuft sehen will, wundert nicht: Ohne funktionierendes Parlament und reibungslose Bürokratie in der DDR läßt sich in der Bundesrepublik schlecht regieren, mit täglich neuen Hiobsbotschaften über die Stasi -Vergangenheit der demokratisch gewählten Ost-Kollegen im Westen kein Wahlkampf führen. Und Kohl will nun mal Kaiser von Deutschland werden, einer, gegen den Zar Michail und Dieu Mitterrand alt aussehen - da hilft nur spontane Amnesie, der schnelle Schlußstrich: Denunzianten, Spitzel, Erpresser, Provokateure, Betrüger, Psycho-Terroristen allen TäterInnen (ausgenommen überführten Mördern), die in den vergangenen 40 Jahren für die Staatsischerheit haupt oder ehrenamtlich aktiv waren, soll nach dem Willen Kohls Generalabsolution erteilt werden. Merkwürdigerweise hat der Ruf nach Stasi-Amnestie keinen großen Proteststurm, Entrüstung oder gar Entsetzen ausgelöst, im Gegenteil: die Bürger-Kommissionen, die die Geheimdienstakten sichten und das DDR-Volk auf Stasi-Vergangenheit durchleuchten wollen, stehen plötzlich als Staatsfeinde da, während Kohl mit einer übergroßen Amnestie-Koalition von Waigel bis Modrow den „Retter der Demokratie“ mimt. Daß die ehemaligen Blockparteien überhaupt kein und die DDR-SPD wenig Interesse an radikaler Durchleuchtung ihrer Stasi-Connections haben, leuchtet unmittelbar ein - wer wird schon gern frei gewählt, um sich gleich wieder zum freiwilligen Rücktritt zwingen zu lassen -, daß aber Kohl und die Seinen sich zum Vorreiter derartiger Vergangenheitsvergewaltigung machen, ist schon toll. Vierzig Jahre hat man Stasi-Terror und Unrechtssystem mit heißen Reden und kaltem Krieg bekämpft, jetzt behandelt man die Sache wie einen Fall von fahrlässiger Steuerhinterziehung, um auf dieser Basis - ja was? natürlich einen neuen Rechtsstaat zu zimmern.

Der Verdacht, daß sich die DDR derzeit mit Kohl als Adenauer in einer Wiederholungsschleife der westdeutschen Nachkriegsgeschichte befindet, erhärtet sich: zwar fallen die Nürnberger Prozesse wegen Krankheit der Hauptbeteiligten aus, aber das Heer der Filbingers und Schönhubers, der Abs‘ und Kiesingers, der Mayers und Müllers wird voll integriert in den demokratischen Aufbau. Außer ein paar Miniatur -Mengeles, die für die Illustrierten gejagt, ein paar besonders fiesen Ortsgruppenleitern, die zum einfachen Mitglied im Männergesangsverein degradiert werden, mausern sich wieder mal über Nacht die Blockwarte zu Hausmeistern. Jeder Richter, jeder Soldat, jeder Bulle leistet einen neuen Eid, alle Lehrer, Steuereintreiber und Sozialarbeiter schwören auf die neuen Richtlinien, und im übrigen hat man entweder nichts gewußt oder war sowieso schon immer dagegen. Wie kommt es, daß solche von jeder Ethik und Moral Lichtjahre entfernte Wendemanöver damals wie heute zu funktionieren scheinen? Es ist die Regel: Aparatschik braucht Aparatschik. Nach ihr haben die Amerikaner 1945 die besten Nazi-Geheimdienstler und Wissenschaftler sofort in ihre Dienste übernommen, und so werden auch nach Maueröffnung die Top-Leute als allererste die Fahne gewechselt haben. Das muß jetzt runtergehen bis zum kleinsten Finanzamt, dafür braucht's die Amnestie - und wenn erst der Apparat wieder steht, dann darf auch mal über Demokratie geredet werden. Wir sind ein Volk und wir brauchen ein Pack, eines, das sich schlägt und verträgt, das strammsteht bei Adolf wie bei Konrad, das heute für Erich und morgen für Helmut funktioniert, das immer nur einem dient: dem Apparat, der Autorität, dem Staat. Ohne das Beamtenpack (um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: nach den jüngsten Polls verfügt die Beamtenfraktion einschl. Bürokratenbund und Vereinigten Sicherheitsfanatikern - im Identitätsparlament des Verfassers über immerhin 9 Prozent der Stimmen), ohne den inneren Schweinebeamten also, wären geistig-moralische Entsorgungsabenteuer wie Kohls Stasi-Blackout kaum durchführbar. So aber - wenn es keine Beamten gäbe, hätte man sie für die Deutschen erfinden müssen - wird es ein voller Erfolg werden. Und unterstehe sich jemand, dem Wort „Schweinesystem“ Taten folgen zu lassen: Als erster Akt im demokratischen Stasi-Recycling wurde die Bildung von Anti -Terror-Einheiten bekannt gegegeben.

Mathias Bröckers