„Comedores populares“ gegen den Hunger

■ Unicef-Untersuchungen weisen zunehmende Unterernährung seit Beginn der Hyperinflation in Peru nach / Volksküchen als Überlebensstrategie der Betroffenen / Politiker diskutieren Kosten eines Sozialprogramms

In Zeiten der Hyperinflation kommen die Statistiker ins Schwitzen: Je nachdem, welches Jahr man als Basis zugrunde legt, fallen die Ergebnisse mehr oder weniger dramatisch aus, wenige Monate können über ganze Dezimalwerte entscheiden.

So ist es denn auch müßig, darüber zu streiten, ob der Reallohn in Peru am Ende der Regierung Alan Garcia nun 60 Prozent unter Vorjahresniveau oder bei 20 Prozent des Wertes von 1980 liegt, ob er gar auf dem Stand von 1914 oder dem von 1960 angekommen sei. Sicher ist: Alle, die nicht über Nebeneinnahmen in Devisen verfügen, regelmäßigen Zugang zu Deputaten in Naturalien haben oder einen festen Job mit einem indexiertem Einkommen, haben in den letzten beiden Jahren der wirtschaftlichen Stagnation mehr gelitten und verloren als je zuvor.

Zur Zeit - so weisen Warenkorbberechnungen nach - sind neun bis zwölf Mindestlöhne von einer Million Inti (Stand März '90) nötig, um eine fünfköpfige Familie angemessen zu ernähren. Mindestens ein Drittel der Bevölkerung ist dazu nicht in der Lage, ein Gutteil von ihnen kann selbst mit mehreren Jobs und über zwölf Stunden Arbeit pro Tag nicht mehr als anderthalb Mindestlöhne erwirtschaften.

Ein Notstand in neuen Dimensionen in einem relativ dünn besiedelten Land mit reicher Agrartradition, subventionierten Lebensmittelpreisen und den höchsten Agrarimporten in Lateinamerika.

Die erste seriöse Untersuchung über die Auswirkungen der Inflation auf die Slumbevölkerung Limas wurde jetzt von einer US-Aid-finanzierten Forschergruppe der UN-Organisation Unicef vorgelegt. Die Hauptergebnisse: Die realen (preisbereinigten) Ausgaben für Lebensmittel sind zwischen Herbst 1988 und Frühjahr 1990 um rund 56 Prozent gefallen, die postnatale Kindersterblichkeit hat sich verdoppelt, die Fälle von schwerer Unterernährung haben absolut zugenommen.

Vor allem Kinder zwischen ein und zwei Jahren wachsen weniger schnell als vor dem Amtsantritt Garcias. Eine durchschnittliche Familie in einer Randsiedlung konnte 20 Prozent ihres Kalorienbedarfs nicht decken - ein Novum für lateinamerikanische Verhältnisse, wo zumindest in den Städten nur noch Fehlernährung mit Proteinmangel auftrat. Experten schätzen, daß Perus Kindersterblichkeit inzwischen sogar höher liegt als in Bolivien und Haiti, wo sie bislang am höchsten war. Da es vielen kaum mehr möglich ist, sich aus eigenen Kräften zu ernähren, entstehen überall in den Armenvierteln „Comedores populares“. Anfang der achtziger Jahre zunächst vereinzelt, aus den sogenannten „Ollas comunes“, den Gemeinschaftsküchen streikender und entlassener Arbeiter entstanden, existieren heute rund 2.700 dieser Überlebenshilfen mit dem Ziel, Lebensmittel billiger zu beschaffen und zuzubereiten. Allein im letzten Jahr hat sich die Zahl der „Comedores populares“ fast verdoppelt.

Die meisten dieser ausschließlich von Frauen organisierten Kleinprojekte werden entweder von einer der politischen Parteien oder von Caritas oder Non-Gouvernment -Organisationen mit Lebensmitteln unterstützt. Eine eigene Vermittlungsinstanz der unabhängigen Gemeinschaftsküchen hat mehrfach Vorschläge zu einem selektiven armutsorientierten Subventionssystem für Lebensmittel entwickelt, das die derzeitige - nicht mehr finanzierbare - Praxis ablösen könnte.

Die meisten der Unterstützerorganisationen versuchen, die Comedores nicht zu simplen Wohlfahrtsempfängern werden zu lassen, sondern die Hilfe auf wenige essentielle Produkte oder einen bestimmten Prozentsatz der Nahrung zu begrenzen und gleichzeitig die Frauengruppen in Ernährung und Organisation fortzubilden.

Ein hehres, aber immer unrealistischer werdendes Ziel, wie die Direktorin von Fovida, einer dieser Institutionen, auch zugibt: „Wir haben eine Art strukturellen Notstands erreicht, wo die Umverteilung nur noch zwischen den Armen stattfindet. Damit die Preise nicht steigen, ist der Nährwert der meisten Mahlzeiten in den Garküchen von 800 bis 900 Kalorien auf nurmehr 600 gesunken, weit weniger als die 1.000 empfohlenen für ein vollwertiges Mittagessen. Die Rationen werden kleiner, die Familien kaufen weniger Rationen und teilen sie auf mehr Mitglieder auf. Wir haben rührende Beispiele von Nachbarschaftshilfe, wo die „reicheren“ Familien mehr zahlen, damit die ärmeren auch drankommen, aber solche Ansätze werden meist binnen weniger Wochen von der Realität überholt.“

Im derzeitigen Wahlkampf sind die „Comedores populares“ in aller Munde, um die vermuteten Folgen der Stabilisierungspolitik nach den Wahlen abzufangen. 700 Millionen Dollar hat sogar die konservative Fredemo von Vargas Llosa für Sozialprogramme vorgesehen, mehr als doppelt soviel ist nach unabhängigen Expertenschätzungen nötig, um den aktuellen Verelendungsprozeß aufzuhalten.

Nina Boschmann