Es gibt immer ein letztes Mal

■ VII. Werkstatt-Tage des DDR-Schauspiels vom 25. 3. bis 29. 3. 1990 in Leipzig

Antje Budde

Sieben Anläufe brauchte der Herr, um die Welt zu schaffen. Dann war alles gut. War dann alles gut? Zum siebenten (und wohl auch zum letzten) Mal beginnt heute die Schauspielwerkstatt in Leipzig. Nun ist alles gut. Ist nun alles gut?“ Dies unkte Christoph Funke, Mitglied der Auswahlkommission der diesjährigen Wettbewerbsbeiträge, im ersten Infoblatt der Werkstatt. Er befürchtet, daß aufgrund des Wahlergebnisses vom 18. März für solcherlei Verständigungs-Luxus kein Platz, sprich Geldtopf mehr sei. Vielleicht frißt die Revolution ihre Kinder. Ob das DDR -Theater allerdings das Kind einer Revolution war/ist, bleibt zu fragen und außerdem: fressen und fressen lassen ... Also, Theatervolk! - laßt euch nicht weiter in die Suppe spucken, die ihr vierzig Jahre mehr oder weniger kreativ ausgelöffelt habt.

Die Theaterszene wird sich unweigerlich wandeln, vor allem die hinzugekommenen fröhlichen Sumpfdotterblumen des off -theatre. Das ist immerhin ein Lichtblick. (Warum denn gleich die kommerziellen Boulevard-Theaterteufel an die Wand malen?) Die Theaterleute sollten nicht ohnmächtig in der Luft herumfuchteln, sondern die Realitäten wahr-nehmen, um selbstbewußt die Initiative zu ergreifen. Alte Begriffe müssen über Bord geworfen werden, über neue Inhalte, Formen, Ansprüche ist zu diskutieren. Eine Werkstatt, wie immer geartet, wird sich finden, wenn ein Wille dort ist, wo ein Weg sich windet.

Die diesjährige Werkstatt zeigte denn auch, trotz aller melancholischer Angstbeschwörung, daß programmatisch auf neue Strukturen hingedacht wird. Zum einen wurden schwerpunktmäßig kleinere, kammerspielartige Inszenierungen und Experimente gezeigt, wobei größere Schauspielproduktionen nicht hinten runter fielen. Auffällig war, daß insbesondere Stücke von DDR-Autoren gespielt wurden, auch der jüngeren. Das ist schon ein erster Schritt zu trotziger Selbstbehauptung, der sich weigert, in der kommenden Einheitssoße mitzuschwimmen. Es kamen sowohl gestandene wie auch bisher ignorierte, unterrepräsentierte Autoren zu Wort. So standen H. Müllers Auftrag, Wolokolamsker Chaussee I-V und Frauenbilder einträchtig neben L. Trolles Barackenbewohner, Michael Peschkes Hauptbahnhof, Jo Fabians To play or not to play, Koerbls Gorbatschow-Fragment, Sporkmanns Dame zu dritt, P. Braschs Santerre und Plenzdorfs Kein Runter Kein Fern sowie Brauns Übergangsgesellschaft. Das Bemühen, einen Querschnitt der DDR-Dramatik in all ihrer Spezifik zu geben, war unverkennbar. Andererseits wurde der neuen Situation mit Gastspielen noch (?) west-deutscher Theater Rechnung getragen.

Neben der Umsetzung von Theatertexten versuchte man sich auch an der Adaption von Prosa auf der Bühne. Insbesondere Christa Wolfs Kassandra fiel diesem Ansin

nen gleich zweimal zum Opfer (Renaissance-Theater Westberlin und Landesbühnen Sachsen). So einfach ist es eben nicht, eine Kunstform in eine andere zu transformieren. Elendes Monologisieren, aufgedrängelte Dialoge und rührselig -stumpfsinnige Trauerkloß-Soli kommen der aufbegehrenden, explosiven Kassandra-Problematik, die ja immerhin auch als Metapher für wahrhaftes Verhalten in unlösbaren Widerspruchs - und Konfliktsituationen steht, nicht einmal im Ansatz nahe. Theater ist was anderes als Literatur - eine Binsenweisheit, weiß Gott! Dennoch kommt es immer wieder zu dem Trugschluß, ein exzellenter, tiefer Text könne einem die Pflicht zu spielerischer, bildhafter, sinnlicher, auf die unmittelbare Kommunikationsbeziehung von Zuschauer und Schauspieler gerichtete Theatralität, die eben eine andere Struktur suchen muß als die der Prosa, von den schwachen Schultern nehmen. Nein! Gerade an Adaptionen zeigt sich: Theater ist kein Sprudeltopf quacksalberner Reagenzien, in den man einen Haufen Sprache, ein paar Kostümfetzen, a little bit Ausstattung, eine Prise Licht und tröpfelnden Musiksound mischt, um daraus den Synthesecharakter dieser Kunst abzuleiten. Die Mischung aller Farben ergibt immer grau. Theater hat eine eigene Qualität, die behauptet und bewiesen werden muß, sonst können wir es abschaffen.

Sehr erfrischend im Gegensatz zu diesen beiden Bruchlandungen waren die beiden experimentellen Theaterarbeiten To play or not to play von Jo Fabian und Was immer dieser Mund auch spricht mit Armina Gusner/Gruppe „Lautlinie“.

Von To play or not to play fand eine Voraufführung statt. Die Premiere ist am 19. 4. 1990 in Potsdam im Jugendklub „Lindenpark“ (Merke!) und wird dort bis zum 22. 4. gespielt. Dieses Projekt ist im Auftrag des „Lindenpark“ auf der Bauhausbühne in Dessau entstanden als 1. Independent Bauhaus Projekt der DDR. Fabian hat mit einer Dessauer Schauspielgruppe und Cottbuser Tänzern parallel gearbeitet. Dabei ist eine genreübergreifende, faszinierende Konstruktion aus Bewegungen, Sprachspielen, Zeichenverkehrungen und in Körpermechanik zerlegte Alltagsmythen herausgekommen, konfrontiert mit zeitgenössischen Entfremdungssymbolen. Zum Beispiel wird die vergehende Zeit nicht durch eine Uhr angegeben, sondern durch eine auf einem Bildschirm neongrün funkelnde Grad -Celsius-Angabe von -60'C bis +48'C. Vorne rechts strahlt ein Fernsehgerät grellbunte Endlosschleifen von Aquarienfischen aus, die durch immer dasselbe Wasser, zwischen immer denselben Pflanzen, aus immer derselben Richtung angeschwommen kommen und wieder verschwinden - eine der von Fabian frech und gekonnt eingesetzten Metaphern - in diesem Fall wohl

für zu Tode gelangweilte, kalte Apathie. Gekennzeichnet ist das ganze Unternehmen von konzentriertem Formwillen, handwerklichem Können der DarstellerInnen, einer sich durchziehenden, zitierenden Musikcollage (Laurie Anderson u. ä.) und dem offensichtlichen Bemühen, unseren irrationalen, verdrängten, verschwiegenen, traumatischen Lebenserfahrungen etwas Adäquates an die Seite zu stellen und gefährdeten Überlebensrationalismus aus seinem permanenten, formelhaft -reduktionistischen Erkenntniszwang ins Licht zu zerren. Allerdings: eine gewisse Raffung hätte nicht schaden können.

Auch in der Produktion Was immer dieser Mund auch spricht, sind Körperbeherrschung und innovativer Einsatz schauspielerisch-handwerklicher Mittel von immanenter Bedeutung. Mit ernstzunehmendem Humor wird der Beziehung Sprache, Rhythmus, Musik und Bedeutung auf den Grund gegangen. Die drei MusikerInnen überzeugen im improvisatorisch angelegten Zusammenspiel mit ihrer Hauptakteurin. Es ist wirklich ein unbeschreibliches Vergnügen, dieser Grenzwanderung zwischen noch nicht Sprache gewordenen Lauten, sprechender Mimik und Gestik, auseinandergestotterten Sätzen, in Versform gepreßter Bedeutung und sämtlichen Ambivalenzen menschlicher Verständigungsschwierigkeiten zu folgen. Ich hätte nicht gedacht, daß solche fast unbe-schreib-sprech-baren Realitätssplitter derart darstellbar sind. Aber das scheint gerade ein Spezifikum von Theaterkunst zu sein, auch das noch an die Oberfläche zu bringen, was durch feste Sprach und Kommunikationskonventionen schon zivilisiert verschüttet scheint.

In beiden Theaterexperimenten besticht die Freisetzung von Kreativität, Phantasie und Unverwechselbarkeit, die unbedingte Handwerksbeherrschung zur Voraussetzung hat, denn sonst würde aus genial-ursprünglichen Konzepten wasserköpfiger Leerlauf und aus guten Vorsätzen hochstapelnder Dilettantismus, wie er zuweilen bei sich professionell glaubenden Laientheatergruppen auftaucht, die irgendwann an ihrer klemmigen Verbissenheit ersticken.

Peter Braschs Hauptbahnhof-Inszenierung, die immerhin den Erstlingstext von Michael Peschke zur Grundlage hat, war möglicherweise auch auf experimentelle Strukturen hingedacht. Daß daraus nicht so recht was wurde, lag sicher nicht nur daran, daß der 9. November in die Probenzeit fiel und manches Angedachte im Müll von gestern verschwinden ließ. Die Idee, Zuschauer und Spieler auf der Bühne zu postieren, hatte was merkwürdig Pseudoavantgardistisches. Auffällig war auch, daß zwischen der Lebendigkeit und übergreifenden Bedeutung des Textes und der müden spielerischen Umsetzung eine Kluft entstand, die dem Zuschauer

schwer zu schaffen machen konnte, und zwar in Form gewöhnlichster Langeweile. Zwar nahm Peschke einen Teil der „Schuld“ auf sich, indem er meinte, die Textstruktur und Figurenkonstellation verleiteten zu gewissen Schwierigkeiten. Der Regisseur Brasch, der angekündig war, konnte sich nicht dazu äußern. Er war im Nichts verschwunden, das heißt eigentlich war er gar nicht erst erschienen.

Das Rahmenprogramm zu diesen VII. Werkstatt-Tagen bestand aus Lesungen von Theaterautoren, die durch das Autoren -Kollegium und den Henschelverlag organisiert wurden. Hier kamen Autoren wie Lutz Turscynski, Igor Kroitsch, Klaus Rohleder, Christian Martin und andere zu Wort. Das „Poetische Theater“ der KMU stand allen wütig Spielenden offen, und hier kamen auch die zum Spiel, die nicht zur Profiszene gehören. Außerdem fanden „Tage der Aktionskunst“ im Kulturhaus der Nationalen Front statt, und eine Fotoausstellung von Heinrich Pawlick zu „Lebensweisen Altenburger Schauspieler“ begleitete das Ganze. Selbstverständlich gab es neben den Lesungen auch Gesprächsrunden, Kolloquien und Diskussionen. Hier bildete der Dramatiker-Treff den dramatischen Höhepunkt, denn wie Werner Buhss nicht nur mit Erstaunen, sondern sichtlichem Unbehagen feststellte, fanden sich neben Dramatikern auch Intendanten, Kritiker, Dramaturgen, Theaterverbandsvertreter, Gewerkschafter usw. ein, was ja immerhin ein deutliches Interesse an diesem Grüpplein schreibender Menschen signalisierte. Leider machten die Dramatiker zum Teil einen recht ärmlichen Eindruck mit ihrem Anspruch, ein jeder müsse sich um ihr Wohlergehen kümmern in den harten Zeiten, denen wir nun entgegengehen, und schrien nach Mutter Nation und Vater Staat (von denen sie doch schon immer angeschmiert worden seien). Erst lehnten sie sich auf, daß sie an die Hand genommen würden, jetzt werden sie beim Wort genommen und sind's wieder nicht zufrieden. Sie werden sich neben ihrem Schreiben, wohl oder übel, mit Überlebensstrategien auseinandersetzen müssen ...

Da kann weder der Theaterverband als Sammlungsorgan von Fachkompetenz und künstlerischer Interessenvertretung etwas ändern noch die neu gegründete Gewerkschaft Kunst-Kultur -Medien, die mit einigem Engagement vordenkt, um soziale Härten der Künstler abzufangen. Außerdem: „Der Staat, die Länder und die Kommunen stehen in der Pflicht, eine Kunstgattung zu erhalten und zu fördern, die wie keine andere aktivierend auf das Gemeinwesen einwirkt und zur Gestaltung demokratischer Verkehrsformen durch kritisches Hinterfragen des Bestehenden beiträgt.“ (Hervorhebung A. B., aus: Gemeinsame Erklärung des Sektretariats der Gewerkschaft Kunst-Kultur-Medien und der Leitung des Verbandes der Theaterschaffenden vom 4. 3. 1990)

Das Rahmenprogramm zu diesen VII. Werkstatt-Tagen bestand aus Lesungen von Theaterautoren, die durch das Autoren -Kollegium und den Henschelverlag organisiert wurden. Hier kamen Autoren wie Lutz Turscynski, Igor Kroitsch, Klaus Rohleder, Christian Martin und andere zu Wort. Das „Poetische Theater“ der KMU stand allen wütig Spielenden offen, und hier kamen auch die zum Spiel, die nicht zur Profiszene gehören. Außerdem fanden „Tage der Aktionskunst“ im Kulturhaus der Nationalen Front statt, und eine Fotoausstellung von Heinrich Pawlick zu„Lebensweisen Altenburger Schauspieler“ begleitete das Ganze. Selbstverständlich gab es neben den Lesungen auch Gesprächsrunden, Kolloquien und Diskussionen. Hier bildete der Dramatiker-Treff den dramatischen Höhepunkt, denn wie Werner Buhss nicht nur mit Erstaunen, sondern sichtlichem Unbehagen feststellte, fanden sich neben Dramatikern auch Intendanten, Kritiker, Dramaturgen, Theaterverbandsvertreter, Gewerkschafter usw. ein, was ja immerhin ein deutliches Interesse an diesem Grüpplein schreibender Menschen signalisierte. Leider machten die Dramatiker zum Teil einen recht ärmlichen Eindruck mit ihrem Anspruch, ein jeder müsse sich um ihr Wohlergehen kümmern in den harten Zeiten, denen wir nun entgegengehen, und schrien nach Mutter Nation und Vater Staat (von denen sie doch schon immer angeschmiert worden sein). Erst lehnten sie sich auf, daß sie an die Hand genommen würden, jetzt werden sie beim Wort genommen und sind's wieder nicht zufrieden. Sie werden sich neben ihrem Schreiben, wohl oder übel, mit Überlebensstrategien auseinandersetzen müssen ...

Da kann weder der Theaterverband als Sammlungsorgan von Fachkompetenz und künstlerischer Interessenvertretung etwas ändern noch die neu gegründete Gewerkschaft Kunst-Kultur -Medien, die mit einigem Engagement vordenkt, um soziale Härten der Künstler abzufangen. Außerdem: „Der Staat, die Länder und die Kommunen stehen in der Pflicht, eine Kunstgattung zu erhalten und zu fördern, die wie keine andere aktivierend auf das Gemeinwesen einwirkt und zur Gestaltung demokratischer Verkehrsformen durch kritisches Hinterfragen des Bestehenden beiträgt.“ (Hervorhebung A. B., aus: Gemeinsame Erklärung des Sektretariats der Gewerkschaft Kunst-Kultur-Medien und der Leitung des Verbandes der Theaterschaffenden vom 4. 3. 1990)