Unselige Zeiten wiederentdeckt

■ Acht Blumenthaler alte Damen erinnern sich gemeinsam an ihre Jugendzeit vor '45

„Disziplin, das wurde von uns verlangt als Grundhaltung.“ Wie ein roter Faden zieht sich dieser Satz durch die Erinnerungen an die eigene Jugendzeit während der nationalsozialistischen Diktatur. Acht Blumenthaler Frauen, heute alle zwischen 60 und 70 Jahren alt, trugen in rund viermonatiger Arbeit zusammen, was sie allzulange verdrängt hatten.

„Man räumt praktisch seinen eigenen Schutt beiseite“, bekennt eine der Frauen. „Das kommt aber erst im Gepräch in solch einem vertrauten Kreis, wie wir es hier waren.“ Die Blumenthalerinnen kannten sich zwar alle vorher, meistens von der Schulzeit. Doch „vertraut“ miteinander wurden sie erst während der Arbeit an ihren Erinnerungen. Angela Stocks vom Stadtteilgeschichtlichen Dokumentationszentrum in Blumenthal leitete die Gruppe. Sie sammelte die Erinnerungen in Form von Interviews. Die Blumenthalerinnen steuerten Fotos aus ihrem Besitz bei.

Angela Stocks: „Das alles ist ein Stück persönlicher Lebensgeschichte. Diese Erinnerungen erheben keinen Anspruch auf All

gemeingültigkeit.“ Aus der „Fülle von Erinnerungen“ stellte Angela Stocks eine Ton-Dia-Schau zusammen. Die Schwerpunkte: Schulzeit, Kinderlandverschickung, Jungmädel und BDM, Reichsarbeitsdienst, Flakhelferin und Krankenschwester im Lazarett. Das Leben der Frauen und auch schon der Mädchen im Nazi-Deutschland war auf ein Leben als Gebärmaschine für „Führer, Volk und Vaterland“ ausgerichtet. Die Mädchen indes betrachteten das mit eher gemischten Gefühlen: „Dem Führer ein Kind schenken ist ja ganz gut, aber wie ?“ Alles, was mit ihnen geschah, war für die Mädchen „eben Krieg“.

Unvorstellbar für die Nazis war die Unvereinbarkeit von HJ -Aufgaben und Schule. Doch diese Konflikte gab es. „Wenn Sie in der Schule mitkommen wollen, geben Sie Ihren Posten bei der HJ auf“, forderten einige Lehrer. Durch den Krieg gerieten die Schülerinnen immer mehr in Lernrückstand. Die Nazis waren jedoch der Meinung, den HJ-Dienst könne man neben der Schule „mit links“ bewältigen.

„Eigene Wünsche wurden nicht berücksichtigt. Es ging alles nur nach Vorschrift“, läßt eine Blumenthalerin die Einkleidung beim Reichsarbeitsdienst Revue passieren. Trotzdem: Mit fortschreitendem Alter lernten die Mädchen „alle Tricks“ kennen, mit denen frau versuchte, sich den allmächtigen Bekleidungsvorschriften zu entziehen. Zum Beispiel zog frau den Rock nicht ganz hoch. Er sollte nachher etwas kürzer sitzen.

„Wir waren doch erst zwischen 18 und 20 und ganz schön lebenshungrig“, erinnern sich die alten Damen der lange entschwundenen und vergessen geglaubten Zeiten. Und denken dabei mit viel Mißbehagen an die immerwährende Disziplinierung, der sie nur selten entkamen. Doch zunächst herrscht Schweigen am Ende der Ton-Dia-Schau. Erst nach einigen Augenblicken kommt eine zaghafte Diskussion zustande. Trotz unterschiedlicher Erinnerungen an die Nazi -Zeit waren sich alle einig, daß es „verlorene Jugendjahre“ waren, wie eine der Frauen weinend sagt.

Ulf Buschmann