Glotze mit Überbau – Ein Tritt in John Wayne

■ „Fernseh-Theorien“ zwischen Erotik, Revolution und Digitalisierung – Langstreckenlauf durch eine Tagung

Im 14. Stock des SFB traf sich am Wochenende die linksliberale Medienbranche zur Jahrestagung der „Gesellschaft für Film- und Fernsehwissenschaft“. Eingezwängt zwischen sozial- und medienwissenschaftlicher Mainstream-Forschung, elektronischer Bilderproduktion und Kolonialstrategien der Medienkonzerne, herrschte große Angst vor dem Rückfall in kulturkritisches Besserwissertum vor. Ich hatte mir einen Überblick über Stimmungen, neue Technologien und deren prognostische Übersetzung in theoretische Konzeptionen, die trotz aller Spezialisierung „das Ganze“ nicht aus den Augen verlieren, erwartet. Vielleicht konnte die Konzeption einer Medien- oder einer Fernsehtheorie deshalb nicht gelingen, weil es gegenwärtig keine plausible Gesellschaftstheorie gibt. Oder anders: Diese Gesellschaftstheorie, die immer noch von lebenden und leidenden Individuen und deren Erfahrungen und Realitätskonstruktionen ausgehen müßte, hätte zuallererst eine Medien- und Fernsehtheorie zu sein. Gleitschutz für Kritiker

Es begann vehement. Der erste Tag, konzipiert für die Diskussion aktueller „Theorien und Modelle des Fernsehens“, eröffnet durch den Hausherrn Horst Schättle (“Die Medienforschung ist ein Tummelfeld für wissenschaftlichen Dilettantismus“) und eingeleitet vom Vorsitzenden der GFF, Knut Hickethier (“Seit Mitte der siebziger Jahre sind Fernsehtheorien Mangelware“), war zunächst geprägt von Lutz Hachmeisters Plädoyer für eine „Erotik des Fernsehens“. Hachmeister, Chef des Adolf-Grimme-Instituts, sinnierte nicht nur darüber, wo eigentlich in den Medientheorien die Situation auftauche, daß Mann und Frau, zu zweit im Bett sich räkelnd, einen Spielfilm anschauen, er diagnostizierte zugleich die komplette Vernachlässigung der klassischen Theoretiker in der westdeutschen Kommunikationswissenschaft. Marshal McLuhan, jener irisch-katholische Kanadier und intellektuelle Papst der Pop-Kultur, hatte bereits in den fünfziger und sechziger Jahren vom „global village“ gesprochen, vom Zerfall der politischen Ideologien im Fernsehen durch ihre Angleichung über die technologische Apparatur (“The medium is the message“ – „Das Medium ist Massage“), war aber erst dreißig Jahre später in der Bundesrepublik breiter rezipiert worden. Und das bedeute nicht bloß, daß Neil Postman oder Jean Baudrillard fälschlicherweise als Originale gelesen würden; es zeige auch, daß die große Koalition der Sinnproduzenten in den sechziger Jahren, bestehend aus Anhängern der kritischen Theorie und Positivisten, verantwortlich sei für das Verschlafen einer „Modernisierung der Wahrnehmung“. Bis in die Sendeanstalten hinein habe man keinerlei Ahnung von dem, was das Fernsehen eigentlich leiste; insbesondere die Linke unterschätze bis heute die erotische und ästhetische Potenz des Mediums. Hachmeister fordert deshalb eine neue Kritikergeneration, die sich weniger über belanglose Sexprogramme aufregt als vielmehr die Spezifik des Mediums für die Zuschauer, die „gleitende Weltwahrnehmung“ ernst nimmt.

So eingestimmt, konnte man gespannt die Modelle der nun auftretenden Sozial- und Kommunikationswissenschaftler erwarten. Doch die Suche nach den Kategorien und Begriffen einer Medien- und Fernsehtheorie geriet zu einer merkwürdigen Veranstaltung. Nichts war zu hören von politisch-ökonomischer Analyse, von Absatzmärkten und Verteilungskämpfen, von Zusammenhängen zwischen Werbung, Ästhetik und Technologie, nichts über Isolierung der Individuen, über fernsehlose Zeit als Katastrophe und gleichzeitige Gewöhnung an die Langeweile des Schreckens, nichts über die Konstituierung des Geschichtsbewußtseins oder die reale politische Macht des Fernsehens, die sogar von Schättle (SFB) zuvor am Beispiel Rumäniens hinterfragt worden war.

Und es schien, als ob mit dem Abwerfen des kulturkritischen Ballastes der sechziger und siebziger Jahre auch die Beschäftigung mit den psychosozialen Veränderungen der Menschen obsolet geworden wäre. Statt dessen entpuppten sich die Diskurse der Sozial- und Kommunikationswissenschaftler als – um in ihrer Sprache zu bleiben – „selbstreferentielle Systeme“. Den Widerstand des Auditoriums bekam insbesondere Günter Bentele (Bamberg) zu spüren, der – angetreten, um mit Niklas Luhmann einen „Flug über den Wolken“ zu wagen – mit seinem eklektizistischen Gemisch aus Systemtheorie, Strukturalismus, evolutionärer Erkenntnistheorie (“die Einzeller und der Mensch“), Empirismus und medienpolitischen Empfehlungen, die weitgehend darauf hinausliefen, „Verzerrungen“ der Wirklichkeit im Wahrnehmungsapparat Fernsehen als Systemfehler zu eliminieren, die Landebahn glatt verfehlte. Unter Laborbedingungen wurden „Perspektivität-Selektivität-Konstruktivität“ definiert, Selektion und Reduktion als funktionale Notwendigkeit für die Beherrschung der Teilsysteme dargestellt, um schließlich mittels Overheadprojektor soziale von natürlicher, objektive von subjektiver Realität zu unterscheiden. Gar nicht aber konnte er erklären, warum die Menschen wissen, daß sie in den Medien verschaukelt werden, daß sie also die Diskrepanz –Erfahrung von „Realität“ und Medium gemacht haben und dennoch an den Medien hängen. „Angewachsenes Fernsehen“

Für Eggo Müller, „Technik-Soziologe“ aus Hildesheim, ist Fernsehen ein „soziotechnisches System“, in dem Subjekte und Technik in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander stehen. Seine Skizze möglicher Untersuchungsfelder geriet allerdings zu einer leidenschaftslosen Auflistung des Faktischen, in der gegenwärtige Technik-Soziologie sich allenfalls zur Technikfolgenabschätzung aufgerufen sieht. Nachdem schließlich noch Peter M. Spangenberg, ein Literaturwissenschaftler aus Siegen, ebenfalls unter Zuhilfenahme der Systemtheorie, sein der Biologie entlehntes Modell „medialer Kopplungen“ vorgestellt hatte (seine griffigste Formel ist das „angewachsene Fernsehen“ – was man gesehen hat, bleibt im Kasten und geht in die Konstruktion von Wirklichkeit ein), atmeten alle sichtbar auf, denn Hartmut Winkler versprach nun, das Abstraktionsniveau abzusenken.

Ein Zusammenschnitt von Sporttrailern und Werbung der Privaten, beispielhaft für die gegenwärtige Hektik auf den Bildschirmen, sollte die Krise des Mediums belegen. Zuschauer würden zunehmend fernsehmüde, wie Umfragen zeigten, Fernsehen werde immer mehr zur „Restzeitvernichtungsmaschine“. Mit der „Eskalation der ästhetischen Mittel“, der Rücknahme des ursprünglichen Anspruchs, die Dinge direkt und ohne Manipulation abzubilden, bekommen die Bilder zunehmend Zeichencharakter, der nun unzweideutig auf ihre Machart verweist. Die redundanten, immer wiederkehrenden Klischees und Formen produzieren den „blasierten“ Fernsehzuschauer, der 300 Filme im Jahr sieht und sehr genau spürt, daß es immer das Gleiche ist. Damit aber kommen die technischen Bilder zu ihrem Ende, werden abgelöst durch Bilderschriften, die allein, unterstützt durch die neuen Techniken, die Goldgräberstimmung der Medienkonzerne erlauben. Sex gegen Palastrevolution

Nachdem am Samstag die „time lags“ zwischen technologischer Entwicklung und sozial- wie medienwissenschaftlicher Forschung bisweilen erschreckend klafften, durfte am Sonntag, wie eingeplant, die medienpolitische Realität zu ihrem Recht kommen. „Komische Kopulationspantomimik“ hatte Peter C. Hall (ZDF) im Videoangebot seines Hotels ausgemacht und räsonierte über den Erfolg des RTL-plus-Hits „Tutti –Frutti“ (diese Strip-Show floß übrigens in die Äußerungen der meisten Referenten ein, die Referentinnen schwiegen, da erst gar keine eingeladen worden waren). Angesichts dessen, daß die Sex-Show am DDR-Wahlsonntag abend über 1,5 Millionen Zuschauer gehabt habe, hielt Hall dreierlei für angebracht: ein Bewußtsein darüber, daß Marktabschöpfung Leitmotiv aller am Fernsehen Beteiligten sei, zweitens einen veränderten Umgang insbesondere der Öffentlichen-Rechtlichen mit der „Wirklichkeit“ – beispielsweise statt gesittet-langweiliger Politikerbilder aus dem Palast der Republik Einblicke in die realen Auseinandersetzungen des Küchenpersonals im Palast über den Ausgang der Wahl. Und drittens die aktive Unterstützung der „besseren Programme“ durch die Medienkritik, um den angeblich hohen Anspruch der Öffentlich –Rechtlichen zu bewahren.

Zuvor hatten sowohl Schättle wie Werner Schwaderlapp (ZDF) das DDR-Fernsehen schwarzgemalt und in Planspielen seine Integration in die ARD samt Entschlackungskur quasi vorvollzogen. Das Primat der Ökonomie gelte in Zeiten, in denen die Monopolstruktur durchbrochen sei, ohnehin: Sanierung, Sachzwang, Marktunfähigkeit der DDR auch hier. Teilnehmer aus Potsdam, Babelsberg und Adlershof hatten mit ihren Fragen nach Hör- und Fernsehspiel das Nach-Sehen.

Wie der Markt gegenwärtig arbeitet, verdeutlichte am Nachmittag der Frankfurter Journalist Uwe Kamman. Er verglich die gegenwärtige Strategie der westdeutschen Medienkonzerne mit einem „Krieg“, in dem es – ausgetüftelt durch „Sonderstäbe“ – um territoriale Markteroberung, –erhaltung und –ausbau gehe. Vor allem die Teilnehmer aus der DDR waren fasziniert und erschüttert zugleich über die ungeheure „Mobilität bei der Entwicklung medienpolitischer Konzepte“ durch den Westen. Eine entsprechende Debatte findet in der DDR praktisch nicht statt, weil sie sich nie entwickeln konnte. Wäre sonst alles anders gekommen? „Keiner hat's gewollt!“

Die Fernsehrevolution

„Was jetzt geschehen muß, haben alle nicht vorgedacht und deshalb nicht gewollt.“ Helmut Hanke, Kulturwissenschaftler aus Potsdam, analysierte die Wende als „Fernsehrevolution“. Quer zum eigenen Lebensstil folgte die Mehrheit der DDR –Bevölkerung im Oktober '89 einem Bild vom gewollten Leben, dem Westfernsehen: „Die kulturelle Kommunikation war immer gesamtdeutsch“. Die Teilkulturnation DDR sei immer eine Fernsehgesellschaft gewesen, die Bedeutung der Literaten war künstlich. Der Westen habe der DDR nie andere Bedürfnissysteme angeboten als jene, über die sich der Westen heute errege. Aldi und Hertie führen heute die Früchte von ARD und ZDF ein. Deshalb seien die Klagen über den „Bananenrausch“ reine Heuchelei. Was die „Revolution“ betrifft, hätte die Mehrheit vor dem Fernseher die Aktionen der Minderheit gesehen und abgewartet. Der Kommandeur der Grenztruppen hat von der Öffnung der Mauer aus dem Fernsehen erfahren. Und als Ironie der Geschichte profitiert ausgerechnet das heruntergewirtschaftete DDR-Fernsehen am meisten davon. Heute erreicht die „Aktuelle Kamera“ Spitzenwerte wie sonst nur Heinz Rühmann.

Hankes Resümee, daß es nie wieder eine linke oder eine Sozialismus-Konzeption geben könne ohne massen-mediale Kultur, hätte Ausgangspunkt der ganzen Diskussion sein müssen, und es hätte auch die Frage evozieren müssen, inwieweit die offensichtliche Beschleunigung dieser sogenannten Revolution durch die Fernsehbilder nicht selbst auch die in diesem Blatt verbreitete Rede von der „Revolution“ problematisch macht.

Hankes und Kammans Beiträge sorgten dann auch für die erste Kontroverse. Während mehrere DDR-Teilnehmer dem Westen imperiales Gehabe vorwarfen (Peter Hoff aus Potsdam sagte, er sei sich schon im Sommer '89 auf einer Medien-Messe vorgekommen „wie ein Neger auf einer Kolonialkonferenz des 19. Jahrhunderts“), konterte eine West-Teilnehmerin, die DDR sei schließlich mit dem Wahlergebnis den westdeutschen Linken in den Rücken gefallen, nun müßten sie selbst sehen, wie sie sich am besten vor „räuberischen Haien“ schützen könnten. HDTV – Problem

für Zimmerpflanzen

Das „geplante Wechselbad“ (Hickethier) erfuhr am Sonntag seine Vollendung mit einer Demonstration neuer elektronischer Bild-Technologien. Nachdem zunächst G. Mahler vom Hans-Hertz-Institut Berlin in der überzeugenden Manier technologischer Intelligenz vorgeführt hatte, wie HDTV, das hochauflösende Fernsehen funktioniert, ging es im Foyer des SFB an die prototypische Betrachtung der „Telepräsenz“. Wie um ein auratisches Kunstwerk des 19. Jahrhunderts geschart, löste nicht nur die optische Brillianz ein Raunen aus; insbesondere die unerläßliche Größe des Apparats (ca. Kachelofen-Format) machte plausibel, weshalb die noch zu lösenden technischen Probleme weniger in der Aufzeichnung und Produktion liegen als in der Wiedergabe im Heim, geht man davon aus, daß bei einem Maß von 1x1,70 Meter und einem Idealabstand von 3 Metern möglichst keine Zimmerpflanze die Telepräsenz stören soll. Telepräsenz heißt: auf einem überdimensionierten Bildschirm kann der Zuschauer Details auswählen. Das dann zur Totalen drängende Medium erzwingt eine andere Dramaturgie; wie die Reaktion auf die Perfektionierung der Illusion auf das Programm rückwirkt, ist noch weitgehend unerforscht. Der Dokumentarfilm, der auf eine hohe Mobilität der Technik angewiesen ist, droht als erstes zu verschwinden, weil HDTV einen hohen technischen Aufwand erfordert.

Siegfried Zielinski, Medienwissenschaftler aus Salzburg, kritisierte an dieser Einschätzung das komplett traditionelle Verständnis, mit dem auf die neuen Technologien reagiert werde. Das Programm der Dadaisten sei erfüllt, die Zuschauer surften durch die Programme, meinte Jochen Lingnau von der Berliner „Bildo-Akademie“, deren Zielsetzung ist, „unbedingt modern“ zu sein. Heute müßten die Video-Künstler ins Fernsehen, Fernseh-Theorie müsse über Kunst reden, weil einzig die Kunst die Reflexion der technischen Prozesse gewährleisten könne.

Nach einer Demonstration der Paint-Box (16,7 Millionen Farben können kombiniert werden) und einer melancholischen Erinnerung an die gute alte Zeit des Filmschnitts durch Gerhard Schumm (Berlin), die den „Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ am Beispiel des Verlustes der „mimetischen Fähigkeiten“ durch den ökonomischen Zwang im Filmschnitt deutlich machte, kam die Veranstaltung buchstäblich zu ihrem Ende, indem die gesamte Tendenz der elektronischen Bilderzeugung auf ihren immanenten Selbstzweck zurückfiel. Bernd Willim, ein Computergrafik-Spezialist aus Berlin, erläuterte in ungewollt komischem Sprachstil die Fortschritte bei der Animation „computergenerierter Menschen“. Für die Digitalisierung des Menschen benötigt man heute genau 15 Sekunden. Das Problem sei heute doch, daß man noch nicht ins Fernsehen hineingehen könne; die neue Technologie werde es aber erlauben – mittels „Sichtbrille“, „Datenhandschuh“ und „Datenanzug“ –, zu John Wayne in den Film zu treten (interaktiver Spielfilm!) oder mit einem „künstlichen Gorbatschow“ Gespräche zu führen. Dieser Clown der Machtergreifung, der durchaus nicht unkritisch am Schluß bestätigte, daß die Pornobranche hier vor gigantischen Innovationsmöglichkeiten steht, wußte ganz genau, warum trotz aller Heiterkeit über seinen Vortrag (“Das hier ist das Nichts, das muß noch programmiert werden“) die sozialkritischen Zungen im Halse steckenblieben; der Kinderspielzeug-Konzern Matell wird in diesem Sommer die erste „Sichtbrille“ auf den Markt werfen. Preis: 80 Dollar. Willim: „Das wird ein Bombenerfolg.“

Cornelius Helmes