Der Diskurs des Herren

■ Alexander Alovs und Wladimir Naumovs „Böse Anekdote“, 21.40 Uhr, 1 Plus

Daß tief verwurzelte Obrigkeitshörigkeit und blasierte Machtgier nicht einfach durch Reformen und importierte Neuwahlen ausgemerzt werden, zeigt aufs Eindrucksvollste Alexander Alovs und Wladimir Naumovs Dostojewski-Verfilmung Böse Anekdote. Mit Askoldovs Die Kommissarin teilt dieser mindestens ebenso große Film aus dem Jahr 1966 das Schicksal, erst 21 Jahre nach Fertigstellung öffentlich aufgeführt worden zu sein, vier Jahre nach dem Tod des Co -Regisseurs Alov.

Eine eigenwillig bizarre Erzählweise gibt dem Film seine Form. Das seltsame, zum Standbild eingefrorene Handgemenge entpuppt sich als Hochzeitsfeier, auf dem das Brautpaar herumsteht wie hölzerne Halmasteine. Aberwitzige Gesichter, die für sich bereits ganze Geschichten erzählen, füllen das scopeformatige Schwarzweißbild. Verirrt sich Kamera einmal in die Totale, so erschließt sie traumverzerrte Innenräume, ein Caligarisches Kabinett, schräg wie die Bilder aus dem Dritten Mann.

Während Standbilder den Film immer wieder in absurden Posen erstarren lassen, ergänzt Dostojewskis ironisch-feinsinniger Kommentar die Geschichte, eine ebenso simple wie kongeniale Verknüpfung von filmischen und literarischen Mitteln.

Ein General, der sich mit Orden und Reformplänen schmückt, verirrt sich auf besagte Hochzeitsfeier seines direkten Untergebenen mit Namen Pseldonimov. Ganz selbstverständlich läßt sich seine Exzellenz aushalten und quillt dabei über vor selbstsüchtiger Her(r)ablassung. Die Feier artet zu einem fürchterlichen Saufgelage aus. Im Suff kommt man sich näher, physisch. Entgegen Brechts alkoholdünstigem Verbrüderungsmythos Herr Puntila und sein Knecht Matti sezieren Dostojewski/Alov-Naumov in einem mit Schnaps gefüllten Vergrößerungsglas zynisch bis zum Exzeß durchgespielte Untergebenheitsrituale, die den an seiner Gutherzigkeit „leidenden“ Herren und vor allem den devoten Knecht mit „verwerflicher Lust“ erfüllen. Surreale Traumszenen entlarven das Verhältnis zwischen dem General und Pseldonimov als tragische Liebesbeziehung.

Unter dem politischen Tauwetter der Perestroika hat Naumov die Arbeit wieder aufgenommen. Zwei neue Filme werden voraussichtlich noch in diesem Jahr in unsere Kinos kommen. Das Gesetz bescheibt das persönliche Schicksal eines Verfolgten unter der Stalin-Zeit. Der zweite Film mit dem für uns schwer verständlichen Titel Zehn Jahre ohne Recht auf Briefwechsel spielt auf ein besonderes Strafmaß russischer Justiz an, eine nicht nur metaphorisch gemeinte Exkommunikation, die gleichbedeutend ist mit Straflager oder Tod. Der Film erzählt die Geschichte eines Mannes, der in einem berühmt-berüchtigten Funktionärsmietshaus gegenüber vom Kreml nach seinem Vater forscht, der dort einmal Hausmeister war.

Manfred Riepe