Die Lehre der Madame Therese

 ■  ENTREE GRATUITE - MINIATURMUSEEN IN PARIS

Entree Gratuite - unter diesem Motto hat der Pariser taz -Korrespondent Miniaturmuseen in der Seine-Stadt besucht. Heute in unserer kleinen vorösterlichen Serie: das Anatomiemuseum der Sorbonne.

Zur Linken der Speisesaal der Cordeliers, wo der Doktor Marat einst hetzte, im rechten Ohr ein Preßlufthammer, einige Gänge entlang durch die medizinische Fakultät, vorbei an sonnigen Studentinnen, die harmlos repetieren - und schon sind wir da: im Spalt der angelehnten Stahltür grinst das pudelgroße Skelett eines verwachsenen Zwerges, den Madame Therese gerade mit großer Sorgfalt reinigt. Madame, eigentlich einfache Textilarbeiterin, durfte ihren Arbeitsplatz vor fünfzehn Jahren von ihrer Muhme erben, nachdem sie drei Tage lang unter dem Professor Abelanet probepräpariert hatte.

Keine einfache Arbeit, denn: „Hier ist nichts normal. 4.500 Präparate - aber Sie werden nichts normales finden“, beginnt Madame den Rundgang. Die Zahl der Ausstellungsstücke würde stetig steigen, weil Madame Piautereque, die Kollegin, und sie selbst wöchentlich neue Stücke aus dem Keller der Rue de l'Ecole de Medecine Nr.12 heraufschleppten, wo sie 35 Jahre lang versteckt wurden, „weil die Deutschen sie uns nehmen wollten“. Natürlich bedeute das viel Arbeit. Entstauben, manchmal aus den Glaskolben nehmen und neu einlegen („Die Kunst besteht darin, zu wissen, wann der Deckel wieder geschlossen werden muß. Über die Zusammensetzung der Flüssigkeit darf ich Ihnen nichts sagen, Monsieur“), neu beschriften - oder auch ein Seidenkissen nähen, wie es unter der Mumie einer 1752 verstorbenen Bäuerin liegt, deren Beine kurios über den Kopf gerenkt sind.

Im großen Saal des Museums wird das Sonnenlicht gelb gefiltert durch die Hunderte, Tausende von Glaszylindern verschiedener Größen und Formen, die überall auf ihren Regalen ruhen. In jedem schwimmt ein kleines Monster bzw. ein Teil von ihm. „Kopf eines jungen Subjekts“, hat Madame Therese - auf Geheiß des Professors Abelanet - unter ein kleines Skelett geschrieben, auf dem ein enormer Wasserkopf balanciert. Daneben der Größe nach sortierte rachitische Gerippe, der Unterleib eines Hermaphroditen sowie Modelle diverser Geschlechts- und Tumorkrankheiten im letzten Stadium, allesamt, wie Madame Ther ese betont, von ihr selbst gereinigt.

Auf kleinen Pappkartons hat sie sich Notizen gemacht, mitgeschrieben bei den Führungen des Herrn Professors. Zum Objekt Nr.23 A beispielsweise: Der Kopf eines Herren, der im Jahr 1807 seine Pistole reinigen wollte, nicht wissend, daß diese geladen war. Es endete, wie es enden mußte: der Mann lebte noch zwei Tage mit dem Reinigungsstab in der Stirn und verstarb dann - Schädel und Stab blieben erhalten.

Und jenes sonderbare milchigweiß zerfaserte Gewebe? Überbleibsel einer traurigen, aber wahren Begebenheit, die sich irgendwann im Fin de Siecle abgespielt hat: Um sein karges Gehalt aufzubessern, verschluckte ein Pariser Bankangestellter täglich einen Franc. Monatelang. Als sich der Reichtum dennoch nicht einstellen wollte, beschloß der arme Mann, die Dosis zu steigern und griff zu einem Fünf -Franc-Stück. „Das hätte er nicht tun sollen“, weiß Ther ese, „denn wegen ihrer beträchtlichen Größe blieb ihm die Münze in der Kehle stecken. Tja, wäre er mal bescheiden geblieben...“ Und als Beweis der Richtigkeit ihrer Lehre zeigt sie auf das rostige Fünf-Franc-Stück, das bei genauem Hinsehen noch zwischen den Fleischfasern zu entdecken ist.

Im Lauf der Jahre hat Madame zu manchem Objekten ein besonderes Verhältnis gefunden. Zu dem doppelköpfigen Katzenembryo etwa, oder dem gorgonenhäuptigen Zebrababy, dessen eines Gesicht - „Schauen Sie selbst!“ - leidend, das andere jedoch fast fröhlich wiehernd aussieht. Sonderbar.

Im Museum gibt es alles. Zyklopen und Silikose-Lungen, behaarte Tumore und verschrobene Genitalien, grüne Knochen, zerfräste Unterarme und chinesische Monstren - nichts ist normal, aber angesichts der Masse und Madame Theresens nüchterner Führung mag sich kein Horror einstellen. Aber es gibt auch Probleme im Museum für pathologische Anatomie. Trotz aller Pflege zersetzen sich die Präparate mit der Zeit. Deswegen kommt einmal im Monat ein Leichenwagen der Stadt Paris in den Hof gefahren und lädt alle von Madame und ihrer Kollegin aussortierten Monsterteile in einen Sarg, der dann in das Krematorium des Friedhofs Pere Lachaise transportiert wird. Das sei natürlich nicht schön, sagt Therese, solch ein Abschied nach vielen Jahren voller Pflege, aber so sei das Leben nun einmal, und auch Monster hätten ein Recht auf eine humane Bestattung.

Gute Madame Therese. Ich solle bald einmal wiederkommen, nur - diese Woche nicht, sie muß abrufbereit sein, ihr Vater sei schwer krank. Sie wolle ihn erst wieder sehen, wenn alles vorbei ist: „Er quält sich so. Ich kann den Anblick nicht ertragen...“

Alexander Smoltczyk

Musee Dupuytren; 15, rue de l‘ Ecole-de-Medecine; Besuch nur unter Voranmeldung bei Madame Therese: Tel: 43292860