„Die Flagge des vietnamesischen Drachens hängt tief“

■ Der reformfreudige „Klub der ehemaligen Widerstandskämpfer“ ist vorerst zum Schweigen gebracht / Schon im Vorfeld des ZK-Plenums wurde Kritik mit Restriktionen und Entlassungen geahndet / Private Zeitungen sind verboten, die ersten Privatuniversitäten für Computertechnik und Management haben sich indes etabliert

Bereits im Vorfeld des diesjährigen März-Plenums des ZK der KP Vietnams hatte die Parteiführung einen der einflußreichsten Kritikerkreise zum Schweigen gebracht. Der Vorsitzende des „Klubs der ehemaligen Widerstandskämpfer“ Nguan Ho und dessen Stellvertreter Ta Ba Tang wurden vermutlich auf Geheiß der Parteiführung und des Generalsekretärs der KP, Linh, auf dem Jahrestreffen der Organisation abgewählt. Ein neuer Vorstand wurde bestimmt, der dem Parteikurs weniger Kritik eintragen sollte.

Rund 4.000 Mitglieder zählt der „Klub“, darunter über hundert verdiente Revolutionäre aus dem ehemaligen Südvietnam, einstige Vietcong-Führer und Ex-Minister der provisorischen Revolutionsregierung Südvietnams bis 1975. Zu nennen sind unter anderem General Tra van Tra (der „Befreier von Saigon“, 1975), Tran Bach Dang (der erste Stadtsekretär der Partei von Saigon), Nguyen Ho (der erste Vorsitzende des Volkskommitees der Stadt), Nguyen van Tran (ehemaliger Botschafter in der UdSSR).

In den Artikeln der von ihnen herausgegebenen Zeitung 'Die Stimme des Widerstandes‘ kritisieren sie die derzeitige Partei- und Staatsführung als „inkompetent, korrupt und stalinistisch“, sie verlangen mehr Offenheit und Demokratie in Partei und Gesellschaft und die Erarbeitung und Umsetzung eines ernstzunehmenden Reformprogramms. Das gesamte politische System - verrottet durch die inkompetente Führung alter Mandarine - müsse erneuert werden. Der Nationalversammlung müßten mehr Rechte eingeräumt und verschiedene Minister und der Direktor der Nationalbank entlassen werden. „Der Sozialismus muß von Grund auf erneuert werden“, so die Meinung der ehemaligen Gesundheitsministerin der provisorischen Revolutionsregierung und der Regierung in Hanoi, Duong Quynh Hoa, die ebenfalls Mitglied im „Klub“ ist.

Als der Premier der SRV, Do Muoi, den für Vietnam ungünstigen Vergleich mit den sogenannten vier kleinen Drachen Südostasiens: Taiwan, Südkorea, Hong Kong und Singapur, zurückwies und behauptete, daß Vietnam die Fahne des Marxismus-Leninismus tief herunter hängen müßte, um ein solcher Drache zu werden, konterten die Veteranen kühl: Sie und das Volk hätten den Eindruck, daß durch das Versagen der Partei die Fahne des Marxismus-Leninismus bereits auf dem Tiefpunkt hänge.

In Vietnam wächst der Unmut gegen die Bestechlichkeit vieler Kader, denen die letzte Kampagne nicht entschlossen genug zu Leibe rückte. Ta Ba Tang befürchtet, daß Ho-Chi -Minh-Stadt zu einem „Sündenbabel“ verkommen ist, das zunehmend an Anziehungskraft auf ausländische Investoren und Touristen einbüßt. Dabei bietet das liberale seit 1988 wirksame vietnamesische Auslandsinvestitionsgesetz äußerst günstige Bedingungen.

Schriftsteller, Dichter, Herausgeber kritischer Zeitungen, die in jüngster Zeit wiederholt Korruptionsskandale aufgedeckt haben und andere Protagonisten einer politisch -kulturellen Wende wurden mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes bestraft.

So wurden zwei Literaturmagazine in Zentralvietnam geschlossen, die Herausgeber der beiden wichtigsten Zeitungen von Ho-Chi-Minh-Stadt ausgewechselt. Der Direktor der Abteilung Kultur und Künste beim ZK Tran Do, ein Reformer und Unterstützer der Freiheit für Künstler, mußte sich mit seiner Entlassung abfinden. Das gleiche Schicksal traf drei Provinzparteisekretäre, von denen mindestens einer für seinen betont liberalen Politikstil bekannt war.

Inzwischen wurde von der Nationalversammlung ein Gesetz verabschiedet, das private Zeitungen verbietet und das Zeugnisverweigerungsrecht für Journalisten aufhebt. Für die Einstellung und Entlassung von Zeitungsherausgebern ist fortan die Zustimmung der Zentralregierung erforderlich.

Ganz auf der harschen Linie lag denn auch ein landesweites Verbot für die kommerzielle Vorführung von Videofilmen, sowie die Schließung einiger Magazine und das Verbot von sechs Büchern, die „Details über Verbrechen und anstößige Szenen“ enthielten. Darunter fiel auch die Übersetzung von Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber nie zu fragen wagten.

Protest regte sich Anfang 1989 auch an den Hochschulen der SRV. Zu Beginn des Jahres gab es die ersten „Teach-Ins“ an der polytechnischen Universität in Ho-Chi-Minh-Stadt. Die Studenten beklagten sich über ihre Curricula, die Zulassungsmodalitäten und ihre armseligen Lebensumstände. Der Bildungsminister versprach, daß künftig die Zulassung nicht mehr von den politischen Verdiensten der Bewerber abhängen würde und die Lehrbücher zum Thema Marxismus -Leninismus überarbeitet werden sollten. An einzelnen Universitäten wurden erstmals die Rektoren durch die Mitgliedern der Lehranstalt selber gewählt. In einem Fall entschied sich das Kollegium sogar für einen Rektor, der nicht Mitglied der KP ist.

Ganz unmittelbare Folgen hatte der studentische Protest in Hanoi. Im Februar 1989 konnte daraufhin die ersten private Universität („Aufsteigender Drache“, Thang Long) eröffnen. Sie beginnt mit sechs Teilzeitprofessuren und 70 Studenten für Computertechnik. In den nächsten Jahre sollen 500 weitere Studenten und die Einrichtung eines Studiengangs für Management folgen. Luu, der 33 Jahre lang unter anderem Mathematik an der staatlichen Universität von Hanoi lehrte und die Privatuniversität mitgründete, hatte keine Hoffnung mehr, daß sich das staatliche System aus sich heraus ändert: „So ist es besser, ein Pilotprojekt zu starten. Wir hoffen, daß die Privatuniversität letztlich auf das staatliche System positiv zurückwirkt.“ In Ho-Chi-Minh-Stadt soll eine „Zweigstelle“ eröffnet werden, und der Regierung liegen weitere Anträge für eine medizinische Hochschule und eine für Sozialarbeit vor.

Jörg Wischermann

Der gekürzte Text wurde der gleichnamigen Broschüre entnommen. Zu beziehen über Hans Bussert, Kommandantenstr. 8, 1000 Berlin 45