Systemübergreifende Giftcocktails

Zehntausende von Altlasten unserer Industrie und Militärkultur lauern in Ost und West in den Böden Europas / Die Erfassung und Erforschung der Problemstandorte steht noch ganz am Anfang / Gefährdungspotential und Sanierungskosten sind weitgehend unbekannt  ■  Von Gerd Rosenkranz

Berlin (taz) - Das Problem ist alles andere als neu. Doch seine Dimension liegt europaweit im Dunkeln. Ausnahmslos alle hochindustrialisierten Staaten werden in den nächsten Jahren und Jahrzehnten in zunehmendem Maß damit konfrontiert sein. Ost wie West stehen bei der Erforschung und Entwicklung von Gegenmaßnahmen noch am Anfang. Die Rede ist von jener hochgiftigen Hinterlassenschaft unserer Industrie und Militärkultur, die auf zigtausenden, in der Mehrzahl noch unbekannten Deponien im Boden Europas lauert.

Der Versuch, in den Ländern Westeuropas Daten zur Altlastensituation zu erfassen, habe sich als „finsteres Kapitel“ erwiesen. Mit diesem Bekenntnis trat vergangenen Woche der Abgesandte der Brüsseler EG-Kommission, Jürgen Büsing, anläßlich des „Umwelttechnologieforums“ in West -Berlin vor die Teilnehmer. Büsing, der sich im Rahmen des derzeitigen EG-Umweltforschungsprogramms STEP (Science and Technology for Environmental Protection) mit der Altlastenproblematik beschäftigt, erklärte, eine einigermaßen verläßliche Erfassung der Giftcocktails unter der europäischen Erde scheitere schon am Definitons -Tohuwabohu, das gegenwärtig noch herrscht. Die Bewertung von Altlasten sei in den einzelnen Ländern völlig unterschiedlich, ebenso die „Schwellenwerte“ zulässiger Giftfrachten, die wiederum den Handlungsbedarf bei der Sanierung steuern. So sind in der Bundesrepublik nach der letzten EG-Erhebung etwa 32.000 Deponien erfaßt, mit über 70.000 wird gerechnet, 50.000 „Verdachtsflächen“ sind bekannt. In den Niederlanden waren 1986 etwa 6.000 Altlasten bekannt, in Frankreich waren es 1982 ganze 800. Neuere Zahlen von jenseits des Rheins liegen der EG-Kommission nicht vor, was Zuhörer zu der ironischen Bemerkung veranlaßte, Frankreich sei eben „ein besonders sauberes Land“. Büsings Resumee: „Die Umfrage der EG-Kommission führte zu keinerlei brauchbaren Ergebnissen.“

So offen sagte es Norbert Franke vom Umweltministerium in Ost-Berlin zwar nicht. Doch sei das, was er als „erste Bestandsaufnahme“ der Altlasten in der DDR präsentieren wolle, nicht vielmehr als eine zwar aktuelle (sie stammt aus dem Jahr 1989) aber sicherlich noch unvollständige „Schnellschußerfassung“. Der Eindruck der Unvollständigkeit blieb denn auch nicht lange verborgen: Hatte Michaele Schreyer, West-Berlins Umweltsenatorin, die Zahl der giftigen Zeitbomben allein im Ostteil Berlins auf mindestens 1.500 geschätzt (West-Berlin: 2.300), so nannte Franke für die gesamte DDR eine Zahl von 1.266 erfaßten Altlasten.

Bis 1988, erklärte Franke, sei die Problematik ausschließlich bei akuten Gefährdungen der Bevölkerung ins Blickfeld der DDR-Behörden geraten. Erst danach sei die nun vorliegende erste Erfassung in Angriff genommen worden, bei der man sich teilweise bereits der sogenannten Fernerkundung mit Infrarotaufnahmen aus dem Flugzeug bedient habe. An eine systematische Sanierung allerdings sei in der DDR gegenwärtig gar nicht zu denken. Der „wissenschaftliche Vorlauf“ sei viel zu kurz, entsprechende Technologien stünden nicht zur Verfügung. Auch mit der Offenlegung der inzwischen bekannten Altlastenstandorte hapert es noch: Da müsse sich das Publikum noch etwas gedulden, meinte Frankes Coreferent Friedrich Möller vom Referenzlaboratorium für Bodenhygiene in Potsdam. Und etwas kryptisch fügte er hinzu: „Auf die Gründe kann ich nicht eingehen.“ Die sind nicht schwer zu erraten. Denn auf Nachfrage von DDR-Teilnehmern im Publikum bestätigte Möller, auch in der DDR seien „Siedlungen durch bekannte Altlasten gefährdet“. Im übrigen werden die DDR-Bürger auch im ersten „öffentlichen Jahresbericht“ über die Umweltsituation im Lande vergeblich nach einem Kapitel „Altlasten“ suchen. Die werden erst im nächsten Jahr aufgenommen.

Doch zum Zurücklehnen besteht auf diesem Feld auch im Westen keinerlei Anlaß. Büsing sprach von „erheblichen Kenntnislücken“ bezüglich der Mobilität der Schadstoffe im Boden und dem Abbau anorganischer Verbindungen. Außerdem sei zwar die Wirkung mancher Umweltchemikalien auf den Menschen erforscht, nicht jedoch die der üblicherweise in Altlasten zusammengeschütteten Chemikaliencocktails. Als „biologischer Indikator“ für die Existenz einer Altlast, meinte Büsing mit einem Anflug von Sarkasmus, diene bisher „allein der Mensch“, den die Gifte krankmachen. Die Altlastensiedlungen in Bielfeld-Brake oder Dortmund-Dorstfeld lassen grüßen. Deshalb forderte Büsing auch die „Entwicklung geeigneter Indikatorsysteme für Altlasten“. In dieselbe Kerbe schlug Friedrich Möller, der einheitliche Bewertungsschemata unter Einbeziehung „umweltmedizinischer Mitverantwortung“ verlangte. Dazu müßten insbesondere gesicherte Dosis -Wirkungsbeziehungen ermittelt werden. Ziel sei es, Altlasten mit unterschiedlicher Gefährlichkeit unterscheiden zu lernen. Hinter derlei sicherlich vernünftigen Forderungen verbirgt sich eine Erkenntnis, die bei dem Berliner Kongreß merkwürdig unter der Oberfläche blieb und die die Altlastenforscher hüben und drüben vereint: Die Erkenntnis nämlich, daß die Sanierung sämtlicher Altlasten, nicht nur die Kassen der Verursacher, sondern auch die der öffentlichen Hand bei weitem sprengen würde.