Alle waren dabei

Der Fall Böhme und der Kampf mit der Krake Staatssicherheit  ■ G A S T K O M M E N T A R

Das Verwirrspiel aus dem journalistischen Stasi-Untergrund von 'Spiegel‘ bis Aktueller Kamera hat sein nächstes Opfer: Ibrahim Böhme. Als einer der fähigsten Politiker aus der früheren Opposition steht er seit langem auf der Abschußliste ganz oben. Jetzt zog der Stasi-Mann die graue Karte, und Böhme soll ins politische Abseits. Offensichtlich wollen die unsauberen Rechercheure mit ihrer neuen Kampagne erreichen, daß sich niemand mehr an das Steuer des Auslaufmodells DDR setzt, um ihm vielleicht doch noch eine eigene Fahrtrichtung zu geben. Wie alle DDR-Bürger hatte es auch Ibrahim Böhme in seinem bewegten Leben mit Dutzenden von Stasinisten oder durch Stasinisten geführten Personen zu tun. Wo begann Zusammenarbeit, wo endete sie? Bei zwanglosen, bezahlten Gesprächen der Herren Kohl und Honecker oder im Knast, wo der Häftling Böhme das Vernehmungsprotokoll unterschrieb? Welchen Decknamen hat Herr Kohl? Welchen Antje Vollmer, welchen Fritz Pleitgen? Haben nicht verschiedene Bundesregierungen und ihre verwalteten Steuerzahler das ganze Stasi-Regime gesponsert? Nicht nur Ibrahim Böhmes Akteneinsicht ergibt wahrscheinlich ein anschauliches Bild, wie nahe beieinander der Kampf mit dem Drachen und Umarmung von seinen Krakenarmen sind. Der jetzige anonyme Scheckbuch- und Enthüllungsjournalismus sollte endlich einer echten Aufarbeitung von Struktur und Arbeitsweise dieses deutschen Geheimdienstes Platz machen.

Interessant ist dabei nicht so sehr, wer eigentlich alles dabei war, sondern wie Menschen in diesen Sumpf hineingezogen wurden und unter welchen Anstrengungen sie sich daraus zu befreien versuchten. Die DDR-SPD sollte ihren Mitgründer Böhme nicht einfach ziehen lassen, sondern ein öffentliches Hearing zum Thema starten, alles andere ist Geschichtsverdrängung. In Deutschland herrscht Nachkriegszeit: Irgendwie war jeder dabei. Ich zum Beispiel hatte mir nach der Lektüre von Günther Wallraffs Unerwünschten Reportagen vor fast zwanzig Jahren vorgenommen, in den Apparat einzudringen, um ihn von innen zu knacken! Zum Glück merkte ich schnell, daß die Stasi schon aus lauter Möchtegern-Wallraffs bestand und verabschiedete mich aus diesem literarischen Projekt. Wer spricht hier von Schuld? Wer spielt sich zum Richter auf, bevor es überhaupt geregelte Untersuchungsausschüsse gibt?

Rüdiger Rosenthal

Der Autor lebte bis 1987 in der DDR.